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Wenn Die Nacht Anbricht

Titel: Wenn Die Nacht Anbricht Kostenlos Bücher Online Lesen
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der in ihrem Kopf zu leben. Ich hoffte, das wäre ein gutes Zeichen.
    Wenn meine Mädchen sehen wollten, wie viel Arbeit für manche dieser Frauen darin steckte, sich einfach nur über Wasser zu halten, war das sicher keine schlechte Idee. Es würde ihnen jedenfalls bestimmt nicht schaden.
     
    Virgie
    Henry Harken holte mich noch zweimal von der Kirche ab. Ich wusste immer weniger zu sagen, während er immer entschlossener versuchte, mir Süßigkeiten zu kaufen.
    Das letzte Mal, als er mich nach Hause begleitete, wollte er bei Dr. Marshall vorbeischauen, dessen Praxis der Bank gegenüberlag. Allen in der Stadt war bekannt, dass er das bunte Fenster der Bank bereits dreimal hatte ersetzen müssen, weil er hineingefahren war, als er zu parken versuchte. Wir gingen zu Dr. Grissom, deshalb wusste ich von Dr. Marshall nur, dass er Schwierigkeiten mit seinem Automobil hatte.
    »Sein Wagen ist da. Er muss also drinnen sein«, sagte Henry.
    »Geht ihr alle zu ihm?«, fragte ich.
    »Mein Papa ist mit ihm befreundet. Also ja – wir gehen immer zu ihm.«
    »Ich hab gehört, dass er ein ziemlich schlechter Fahrer ist.«
    Henry lachte. »Er sagt immer ›Holla‹, statt auf die Bremse zu steigen.«
    Das war das erste Mal, dass mich Henry zum Lachen brachte, und für diese eine Sekunde war er fast interessant. Trotzdem mochte ich ihn nicht sonderlich und sah auch keinen Grund, mich dazu zu zwingen, das zu ändern. Es gab noch einen anderen Jungen, der angefangen hatte, sich in der Kirche neben mich zu setzen – Tess und ich saßen manchmal in der Bank vor Mama und Papa. Aber oft war er spät dran, so dass er keinen Platz mehr fand. Dann wartete er hinten und begleitete mich zum Automobil. Doch weiter ging er nie.
    Papa verlor kein Wort über diesen Jungen, vermutlich weil er mich nur diese kurze Strecke begleitete. Es war logisch, dass es ein Junge ernster mit mir meinen musste, wenn er weiter mitkam. Die wenigen Schritte bis zum Automobil stellten für Papa keine Bedrohung dar. Manchmal begleitete mich auch ein Junge von der Schule nach Hause. Aber dann kam immer Tess mit, und gewöhnlich erfuhr Papa nichts davon. Ich erzählte es Mama und überließ es ihr, ob sie es für notwendig hielt, Papa gegenüber etwas zu erwähnen. Meistens tat sie das nicht, und ich war froh darüber, denn sosehr es mich auch das erste Mal aus der Fassung gebracht hatte, als Henry plötzlich vor der Kirche auf mich gewartet hatte, so schnell gewöhnte ich mich daran, von einem Jungen begleitet zu werden. Ich entspannte mich, als mir klar wurde, dass mich ein Junge deswegen nicht automatisch liebte oder heiraten wollte. Es bedeutete nur, dass er glaubte, fünf Minuten mit mir zu verbringen wäre eine angenehme Art, ein bisschen Zeit totzuschlagen. Vielleicht gefiel ihm mein Aussehen, und er wollte etwas länger hinsehen. Nebeneinanderher zu laufen war nicht schwer. Es war ganz natürlich, und ich wusste, dass nicht viel von mir erwartet wurde. Jungs redeten gern, und zuhören konnte jeder. Ich nickte hier und da und sagte: »Hm, das wusste ich nicht«, und die Jungs waren zufrieden. Wenn ich selbst etwas sagen wollte – irgendetwas –, waren sie genauso zufrieden, mir zuzuhören. Sobald ich einmal verstanden hatte, dass sie nur mein Interesse wecken wollten, war es eigentlich schwer, mich falsch zu verhalten.
    Die Spaziergänge dienten also alle einem Zweck, und nach wenigen Wochen kam es mir ganz normal vor, dass dieser oder jener Junge plötzlich neben mir auftauchte und mich begleitete. Aus irgendeinem Grund hatte Henry, als er mich zum ersten Mal fragte, ob er mit mir gehen dürfe – oder vielmehr, als er Papa fragte –, den Weg für die anderen geebnet. Dafür war ich ihm dankbar. Ich war ihm dankbar, weil er mich zu etwas gezwungen hatte, wovor ich zuvor solche Angst gehabt hatte.
    Und ich war ihm dankbar, dass er mich Dr. Marshall vorstellte. Der Arzt kam sogleich an die Tür, als wir an jenem Sonntagnachmittag anklopften. Plötzlich blickte ich auf einen weißen Haarschopf und ein breites, strahlendes Lächeln, das die geradesten Zähne enthüllte, die ich jemals gesehen hatte. Ich mochte ihn sofort. Er gab mir die Hand, als wäre ich ein erwachsener Mann, und packte fest zu, anstatt nur meine Fingerspitzen zu berühren. Er meinte, dass ich entzückend aussähe und was ich denn »mit diesem Harken-Burschen« zu schaffen habe.
    »Ich bin eigentlich nicht vorbeigekommen, damit Sie mich beleidigen«, sagte Henry.
    »Ich dachte, ich

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