Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Wenn Die Nacht Anbricht

Titel: Wenn Die Nacht Anbricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
dachte mir, dass du sie vielleicht geschickt hast. Aber sie wussten nicht mal, dass wir zusammen aufgewachsen sind. Ich hab Ellen gefragt, ob sie mit ihnen befreundet ist, und sie meinte, eigentlich nicht. Dann fiel mir das tote Baby ein. Da dachte ich, dass sie sich vielleicht gerade besonders für Babys interessieren. Vielleicht wollten sie ein gesundes sehen.«
    Falls die Mädchen tatsächlich wegen des Kindes bei Lola gewesen waren, dann war es um mehr gegangen als nur darum, ein gesundes Kind zu sehen. Ich vermutete, auch Lola war das klar. Sie fuhr mit dem Auswaschen fort. Dabei hielt sie den Kopf gesenkt, während ihre Hände so regelmäßig arbeiteten, als bewegten sie sich zum Rhythmus einer Musik.
    »Meine Kinder bekommen genug zu essen, Leta«, sagte sie, als gerade eine Brise meine Haare zerzauste und mein Kleid erfasste. »Ich kümmer mich um sie. Ich würd für meine Kinder mein letztes Hemd hergeben, alles, was ich habe, damit sie satt werden.«
    »Das weiß ich.«
    »Dann meinst du also nicht, dass es ihnen schlecht bei mir geht?«
    Die Brise war auf einmal nicht mehr so angenehm, wie ich sie gerade noch erlebt hatte. Ich warf die Wäscheklammern in den Beutel zurück. »Momentan geht es keinem gut«, erwiderte ich. »Du tust das Menschenmögliche. So wie alle.«
    »Ich wollte nur nicht, dass du und deine Familie schlecht von mir denken.«
    Am liebsten hätte ich Tess und Virgie windelweich geschlagen. Ich wollte Lola erklären, dass keiner schlecht von ihr dachte, auch wenn das nicht stimmte. Aber es gab schlimmere Dinge als arm zu sein. Ich wollte ihr erklären, dass sie ihr hartes, glückloses Leben gut bewältigte. Den meisten wäre das nicht so gut gelungen. Ihr Vater war ein Säufer gewesen, während ihre Mutter den Kindern nie etwas bieten konnte. Sie tat ihr Bestes, die Kleinen vor dem Vater zu schützen, aber Lola kam früher trotzdem immer wieder mit Striemen auf Beinen und Armen und sicher auch an anderen Stellen in die Schule. So etwas gab es oft – mir wären auf der Stelle ein Dutzend Frauen eingefallen, denen es genauso erging –, aber es machte die Sache nicht besser, nur weil es nicht das erste Mal oder nicht die erste Frau war, der so etwas passierte. Ich dachte, dass sie den ersten Jungen, den sie geheiratet hatte, wirklich liebte. Doch dann starb er kurz nach der Geburt ihres ersten Kindes. Zehn Kinder später hatte sie noch immer niemanden, an den sie sich anlehnen konnte – bestimmt nicht an den dumpfen Kerl, der ihr augenblicklicher Ehemann war und der es nicht einmal schaffte, in einem Umkreis von zweihundert Meilen eine Arbeit zu finden. Und selbst wenn es ihm gelingen würde, sähe sie vermutlich niemals einen Penny von seinem Lohn.
    Dass Lola noch immer aufrecht dastand und genauso gutherzig war wie damals, als wir im Alter von Tess Ringelreihen gespielt hatten, sprach meiner Meinung nach dafür, dass sie eine außergewöhnliche Frau war. Natürlich sagte man so etwas nicht laut.
    »Ich wüsste kein schlechtes Wort über dich zu sagen, Lola. Nicht eins.«
    Möglicherweise lächelte sie, aber ich sah es nicht, da sie noch immer nach unten blickte. Also hängte ich weiter Wäsche auf. Ich konnte mich nicht daran erinnern, je den Mädchen etwas über Lola erzählt zu haben – ich hasste nichts mehr auf der Welt als Klatsch –, und ich fragte mich, was sie von ihr hielten. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, wenn sie sich etwas umhörten. Virgie war beinahe erwachsen, und sie war so sehr damit beschäftigt gewesen, im Haus zu helfen, dass sie kaum dazu gekommen war, sich im Leben der anderen umzusehen – höchstens in dem ihrer Verwandten und ihrer Freunde. Sollten sie und Tess nur verstehen, wie viel Glück wir hatten, dass ihr Papa Arbeit und das Stück Land hatte! Tess hatte die Angewohnheit, die Welt als einen großen Spielplatz zu sehen, auf dem es überall nur Annehmlichkeiten gab. Das machte sie zwar zu einem glücklichen Kind, das schnell und leicht lachte, aber es bereitete mir Sorgen, zu welcher Art von Erwachsenen sie einmal werden würde. Einmal hatte sie sich bei mir beschwert, weil ich sie nur mit einer kalten gekochten Kartoffel zu einem Picknick schickte. Sie hatte sich deswegen geschämt. Ich fragte mich, ob sie wohl beim Anblick von Lola und ihren Kindern an diese Kartoffel gedacht hatte. Mir war aufgefallen, dass sie in letzter Zeit etwas weniger über die Zauberdinge am Grund des Brunnens sprach. Sie schien mehr in der richtigen Welt als in

Weitere Kostenlose Bücher