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Wenn Die Nacht Anbricht

Titel: Wenn Die Nacht Anbricht Kostenlos Bücher Online Lesen
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sollte sie besser warnen«, erwiderte Dr. Marshall und sah mich an. »Er sieht zwar ganz ordentlich aus, aber der Junge hat nichts als Unsinn im Kopf.« Dann fragte er, ob wir uns die Praxis ansehen wollten, aber ich erwiderte, dass ich zum Essen nach Hause müsse.
    »Virgie Moore«, sagte er. »Jetzt erinnere ich mich. Ihr seid doch diejenigen, die dieses Baby gefunden haben.«
    »Ja, Sir«, erwiderte ich und wiederholte das, was ich jedes Mal von mir gab, wenn jemand das tote Baby erwähnte. »Ist das nicht die schrecklichste Sache, die man sich vorstellen kann?«
    Doch er war der Einzige, der nicht die übliche Antwort gab: »Kann man wohl sagen.«
    Er sagte stattdessen: »Nein, eigentlich nicht die schrecklichste.«
    Weder Henry noch ich antworteten, weshalb er nach einer Weile wieder lächelte. Diesmal war sein Lächeln jedoch nicht so strahlend. Ich dachte mir, wie gut ihm doch seine Falten zu Gesicht standen. Ich konnte ihn mir als jungen Mann gar nicht vorstellen.
    »Das hätte ich wahrscheinlich nicht sagen sollen.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber Kinder können auf eine furchtbar langsame, grausame Weise sterben. Es gibt so schreckliche Dinge. In einem Brunnen begraben zu werden ist bei weitem nicht das Schlimmste, was ich mir vorstellen kann.«
    »Und was ist das Schlimmste, was Sie sich vorstellen können?«, wollte Henry wissen. Einerseits dachte ich, dass er zu viel Frankenstein gesehen hatte und sich nur für die blutigen Details interessierte. Doch andererseits wollte ich auch wissen, was Dr. Marshall auf diese Frage wohl antworten würde.
    Diesmal lächelte er nicht, sondern dachte eine Weile nach.
    »Nun«, sagte er schließlich zu Henry. »Ich weiß nicht, was das Schlimmste ist. Aber alleine zu sein, ganz und gar alleine, steht meiner Meinung nach ganz oben auf der Liste. Zumindest hat die Mutter dieses Kindes den Jungen bei Leuten gelassen, die sich um ihn kümmern und die das Richtige mit ihm machen würden.«
    Ohne dass er mich angesehen oder gefragt hätte, antwortete ich ihm. Die Worte kamen einfach wie von selbst aus meinem Mund, als würde ich immer mit Erwachsenen sprechen, die ich noch nie zuvor getroffen hatte.
    Eigentlich wollte ich sagen, dass wir gern gewusst hätten, wer es getan hatte.
    Stattdessen sagte ich jedoch: »Wir würden gern seinen Namen kennen.«
    Dr. Marshall reagierte so, als hätte er nichts anderes von mir erwartet. Als würden alle Mädchen, die in ihrem Brunnen ein Baby gefunden hatten, stets das Gleiche sagen, wenn er sich mit ihnen darüber unterhielt.
    »Das kann ich verstehen«, erwiderte er. »Das kann ich sehr gut verstehen.«
    Tess
    Ich besuchte gemeinsam mit meiner Kusine Emmaline die Laube der Baptisten. Onkel Bill und Tante Merilyn saßen hinter uns, beobachteten uns aber bei weitem nicht so genau, wie Mama und Papa das immer taten. In der Laube waren wir zudem im Grunde draußen. Sie bestand nur aus Pfählen und einem Dach aus Gestrüpp und Trieben, die zusammengeflochten waren. Es war ein selbst gemachtes Zelt, das direkt aus dem Wald kam. Schon aus diesem Grund war der Gottesdienst der Baptisten spannender als der unsere. Man konnte den Wind im Gesicht spüren, und manchmal flog ein Falter direkt vor der Nase vorbei, um auf eine der großen Laternen zuzuflattern, die um den Altar hingen. Dieser Altar war eigentlich nur ein hoher, schmaler Tisch mit einer kleinen Ablage in der Nähe des Bodens. Viele Falter flogen um die Laternen, und immer mehr stießen dazu, während der Prediger sprach. Es war fast so, als hätte Gott selbst sie gerufen.
    Deshalb war es auch egal, dass die Laternen genau genommen eine schlechte Idee waren. Ein falscher Schritt eines Gemeindemitglieds, und der ganze Gottesdienst konnte in Flammen aufgehen. Aber dem Glauben der Baptisten zufolge würde sich Gottes präsenter Geist schon darum kümmern, dass so etwas nicht passierte.
    Das Gute bei den Baptisten war, dass sie fast die gleichen Lieder sangen wie wir. Wenn ich mit Emmaline zu den Methodisten-Treffen ging, musste ich immer unsinnige Wörter mit dem Mund formen, damit es so aussah, als wüsste ich, was ich tat.
    Der Baptistenprediger, der heute sprach, gefiel mir nicht sonderlich gut. Zum einen war er viel zu knochig. Er hatte solch scharfe Wangenknochen, dass man glaubte, man würde sich daran aufschneiden, wenn man dagegen stieß. Zum anderen klang er wütend und brüllte jedes Wort, das er sagte. Ich vermutete, das hatte damit zu tun, dass er nicht genug zu essen

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