Wenn Die Nacht Anbricht
bekam. Aber seine schlechte Laune wirkte sich auch auf die Predigt aus. Er predigte, diese Erde sei in Wirklichkeit gar nicht unser Zuhause, und wir würden nur eine Weile hier leben, ehe wir in unsere wahre Heimat eingingen. Er sprach auch davon, dass man sich nicht an Geld oder andere weltliche Dinge binden und diese Welt ablehnen und dafür die nächste lieben solle.
Ich fragte mich, ob er Recht hatte. Mir gefielen keine Predigten, in denen es darum ging, dass diese Welt nur eine Haltestelle auf einer langen Strecke war. Mir erschien sie immer als ein recht angenehmer Ort – mit Magnolien, Schokoladenkuchen und Küken. Es konnte natürlich gut sein, dass ich etwas Wichtiges übersah und die Erde in Wirklichkeit tatsächlich ein Ort voller Hass und Gefahren war, wie das der Prediger behauptete. Vielleicht war die Brunnenfrau ja nur der Anfang für mich, um zu begreifen, worum es eigentlich ging. Vielleicht zählten die Opossums, die Feen fraßen, wesentlich mehr als die Magnolien.
Viele Gemeindemitglieder schienen die Predigt großartig zu finden. Eine Handvoll Frauen und einige Männer eilten nach vorn, wischten sich die Augen, knieten sich auf den Boden vor den Prediger und warteten darauf, dass er sie umarmen oder ihnen zumindest auf die Schulter klopfen würde. Ich hatte noch nie zuvor so viele Leute gesehen, die nach vorne eilten. Ob sie wohl alle getauft werden wollten? Das hätte mir gefallen, weil wir die Laternen dann zum Fluss hinuntergetragen hätten. Vermutlich würden die Falter alle mitkommen.
Doch keiner von ihnen schien gerettet werden zu müssen. Sie fühlten sich nur alle von ihren Sünden überwältigt und wollten, dass man für sie betete. Der Prediger begann, »Amazing Grace« zu singen, und beugte sich dann hinunter, um die Leute, die nach vorne getreten waren, zu trösten – oder vielleicht auch, um sie zu erschrecken. Ich war mir nicht sicher. Einige der Frauen weinten, und eine schluchzte so heftig, dass ihr Kragen ganz nass wurde. Diese Frau hatte ich noch nie gesehen.
»Wer ist das?«, flüsterte ich Emmaline zu. Tante Merilyn und Onkel Bill bedachten uns nicht einmal mit einem strafenden Blick.
»Keine Ahnung«, sagte Emmaline.
Die anderen Männer und Frauen wurden von Trauben von Menschen umringt, die ihnen die Hände schüttelten, sie in die Arme nahmen und manchmal auch auf die Wangen küssten. Nur die fremde Frau hatte niemanden, der sie festhielt. Die Leute gingen an ihr vorbei, klopften ihr kurz auf die Schulter oder lächelten sie an, aber niemand blieb lange genug bei ihr, damit sich auch um sie eine Traube bilden konnte.
Tante Merilyn musste meine Frage gehört haben. Sie lehnte sich nämlich zu mir nach vorn und berührte mich an der Schulter. »Ich glaub, sie ist aus Brilliant«, flüsterte sie. »Lebt jetzt hier in der Gegend bei ihrer Schwester. Ich kann mich aber nicht erinnern, wer das ist.«
Nachdem sie die Regel, nie in der Kirche zu reden, selbst gebrochen hatte, beschloss ich, dass auch ich das noch einmal tun könnte. »Sie hat niemand, Tante Merilyn«, wisperte ich über meine Schulter nach hinten. »Bei ihr bleibt niemand stehen.«
Tante Merilyn antwortete mir nicht mehr. Sie betrachtete die Frau nur eine Weile und musterte dann die anderen Sünder, die nach vorne gegangen waren, ehe sie von ihrem Platz aufstand und ebenfalls zum Altar eilte. Das überraschte mich, aber auch ich wollte mich lieber bewegen, anstatt auf dem Stuhl festzusitzen. Außerdem ging es um die Gefühle dieser Frau. Ich folgte also Tante Merilyn, und Emmaline folgte wiederum mir.
Die Frau weinte noch immer, als wir zu ihr stießen. Tante Merilyn hatte sich neben sie gesetzt und strich ihr die langen schwarzen Haare aus dem Gesicht. Ich fragte mich, wo sie und Mama gelernt hatten, die Leute auf dieselbe Weise zu trösten. Während sie der Frau über die Haare streichelte, wechselte sie sogar genau wie Mama zwischen ihrer Handfläche und den Fingerknöcheln ab. Der Frau half das nicht viel. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, weil sie so in sich zusammengesunken schluchzte. Ihre Schultern zuckten, und der Atem kam nur stoßweise aus ihrem Mund.
»Gott möge meiner Seele gnädig sein«, sagte sie zwischen Schlucken und Schniefen. »Ich verdien’s nicht, dass man mir vergibt.«
»Gott vergibt dir trotzdem, meine Liebe«, erwiderte Tante Merilyn. »Er liebt dich.«
Es schien nicht der richtige Zeitpunkt zu sein, mich der Frau vorzustellen.
»Das kann er nicht«, entgegnete die
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