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Wenn Die Nacht Anbricht

Titel: Wenn Die Nacht Anbricht Kostenlos Bücher Online Lesen
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Tisch getragen hatte, trat ich zurück und sah ihm dabei zu, wie er eine davon aufschlitzte und begann, Händevoll weiße Socken herauszuholen. Seine Lippen bewegten sich, während er ein Paar nach dem anderen herauszog, und schon bald klappte er sein Notizbuch auf.
    »Fünfundsiebzig Paar«, sagte er. »Sollten noch fünfundsiebzig schwarze kommen.«
    Er schnitt den nächsten Karton auf und zog mit seinen großen Fingern die Klappen auseinander. »Die Leute geben vielleicht weniger für Brot oder Kaffee oder auch Schuhe aus. Aber Socken muss man trotzdem noch kaufen«, erklärte er. Ein Haufen schwarzer Socken türmte sich jetzt neben dem mit weißen auf. »Du weißt, dass ihr Glück hattet mit eurem Brunnen. Wenn er kein fließendes Wasser hätte, wär’s schlecht geworden, und jetzt ist nicht die richtige Zeit, einen neuen zu graben.«
    Ich hatte bisher noch kaum über diese Frage nachgedacht. »Glaubst du, jemand wollte das Wasser vergiften?«
    Er warf mir einen Blick zu, das Messer wieder in seiner Hand. »Hab ich nicht gesagt. Wollte ich damit auch nicht sagen. Ich glaub nicht, dass es was bedeutet, außer dass diese Frau den Verstand verloren hat.«
    »Und im letzten Monat hat niemand eine verrückte Frau bemerkt, die rumlief und plötzlich kein Baby mehr hatte?«
    »Ne.« Die nächste Kiste war bis obenhin mit Knöpfen gefüllt. Es sah so aus, als wäre ein Regenbogen in Tausend Stücke geschlagen worden.
    »Es muss doch einen Grund gegeben haben, warum sie grade unser Haus gewählt hat«, versuchte ich es erneut. Ich hätte nichts dagegen gehabt, mehr als zwei Worte aus ihm herauszubekommen.
    »Ne. Muss keinen Grund geben, wenn man nicht mehr ganz richtig im Kopf ist.«
    Als ich ging, um die Kinder im vorderen Teil des Ladens zusammenzutrommeln, wühlte er sich noch immer durch die Regenbogenstücke. Komisch, dachte ich während der wenigen Schritte zwischen Bill und den Kindern, dass er mir nicht behilflich sein kann, einige Stücke des Puzzles an die richtige Stelle zu legen. Obwohl er ein Geschäftsmann war, der gebildeter war als ich und mehr Geld hatte, schien er das Ganze kein bisschen rätselhaft zu finden.
    Ich machte mich mit den Kindern auf den Nachhauseweg, nachdem ich sie von den Bonbons, dem anderen Naschwerk und den Knöpfen losgeeist hatte. Meistens rannten sie einige Schritte vor mir her, während ich es genoss, ihren kleinen Spuren im Staub zu folgen.
    Ich konnte den Duft des Abendessens riechen, sobald ich das Haus betrat. Leta musste das Quietschen der Fliegentür gehört haben, denn sie rief mich, ehe ich noch mit beiden Füßen im Flur stand. Warme Hefebrötchen, dicke Scheiben Tomaten, große Stücke süßer Zwiebeln, ein Topf weißer Bohnen und etwas gebratener Kürbis. Sie hatte sich wieder mal selbst übertroffen.
    Kein Mann konnte schönere Kinder haben als ich. Manchmal, wenn ich mich zum Essen hinsetzte – obwohl sich Leta immer wieder darüber lustig machte, dass ich so aß, als würde man mir jeden Augenblick den Teller wegreißen –, vergaß ich, einen Bissen zu mir zu nehmen, weil ich stattdessen die Kinder betrachtete. Dann bemerkte ich zum Beispiel, dass Tess’ Haare schwärzer geworden waren, dass Jack mehr Sommersprossen als früher auf der Nase hatte und dass mich Virgies Angewohnheit, auf ihrer Lippe herumzukauen, an meine Mutter erinnerte. Man sollte annehmen, ich hätte meine eigenen Kinder nach all den Jahren eigentlich kennen sollen, aber ich entdeckte immer wieder etwas Neues an ihnen. Wenn wir gemeinsam um den Esstisch saßen, war das im Grunde die einzige Gelegenheit, bei der ich sie alle auf einmal sah und sie dabei auch noch still hielten.
    Es hatte etwas Perfektes, sich einen Löffel voller dicker, schwerer Bohnen gemeinsam mit einem Stück süße Zwiebel in den Mund zu schieben – diese Mischung aus heiß und kalt, aus weich und knusprig. Leta war eine großartige Köchin, besser als jede Frau, die ich jemals gekannt hatte. Aber ihr wahres Geheimnis lag darin, dass sie wusste, was zusammenpasste, welche Mischung aus Essen den richtigen Mundvoll ergab: Bohnen und Zwiebel. Kürbis und Tomaten. Es war das Zusammenspiel der verschiedenen Geschmäcker, der Dinge, die eigentlich gar nicht gemeinsam auf eine Gabel gehörten, woran sich die Zunge letztlich wirklich erinnern würde.

6 Baumwollernte
    Jack
    Nachdem Onkel Bill 1934 das Geschäft schließen musste, ließ er sich als Kandidat für den Kongress aufstellen und gewann. Gegen Ende der

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