Wenn Die Nacht Beginnt
vergessen hatte, war Mary Beth in Tränen aufgelöst.«
»Das verstehe ich nicht.« Bohannon schiebt seinen Hut in den Nacken. »Ich habe gehört, dass sie in ihrer Jugend alle enge Freunde waren.«
Mrs. Vanderhoops Lächeln ist trüb. »Ja, nun, für einige von uns liegt die Jugend schon ziemlich weit zurück. Nein, sie hatten nichts füreinander übrig …«
»Aber am Abend vor seinem Tod waren sie noch zusammen beim Dinner«, wendet Bohannon ein. »Sehr freundschaftlich und gut aufgelegt, ist mir gesagt worden. Sie haben über alte Zeiten gelacht.«
»Tatsächlich? Ach.« Mrs. Vanderhoop blinzelt nachdenklich vor sich hin. »Wissen Sie, wenn Sie es nicht wären, der mir das erzählt, Mr. Bohannon, dann würde ich es nicht glauben. Dolores Combs verachtete Mr. Lubowitz. Und als ihre Schwester Rose krank wurde, ließ sie Mary Beth nicht in seine Nähe.«
Bohannon umkreist das Haus, eine großzügige Anlage aus Rotholz mit Fenstern, die auf den Ozean hinausschauen. Es steht allein auf einem Hügel – Land, das einmal Henry Madison III. gehört hatte. Große Kiefern beschatten es. Niemand ist zu sehen. Autos? Die Garagentore sind verschlossen. Er parkt seinen grünen Pickup, steigt aus und schaut die Straße hinunter. Zum Strand kann man zu Fuß gehen, zu Cedric Lubowitz' Motelzimmer ebenso. In zehn Minuten könnte man da sein. Er geht zwischen den Bäumen hinter dem Haus hinauf, wo er das, was er sucht, findet, und geht darauf zu, in Erwartung irgendeiner Reaktion, falls man ihn sieht. Er sieht und hört nichts. Die Absperrung aus Rotholzbrettern, die er im Auge gehabt hatte, besitzt ein Tor, aber es ist nicht verschlossen. Er betätigt lautlos die Klinke, öffnete das Tor und sieht drinnen, was er erwartet hatte: Mülltonnen. Zwei sind mit Heckenschnittabfällen gefüllt, und ihre Deckel stehen gegen die Umzäunung gelehnt, aber auf der dritten sitzt der Deckel, wo er hingehört. Während sein Herz schnell zu schlagen anfängt, hebt er vorsichtig den Deckel an. In der Tonne findet er einen großen, grünen Plastiksack. Er öffnet den Drahtverschluss, zieht den Sack auf, greift hinein, und eine Stimme hinter ihm fragt:
»Was, zum Teufel, machst du da?«
Er dreht sich um: es ist Gerard. Er schaut streng drein.
Bohannon antwortet: »Schrott sammeln – ist das gegen das Gesetz?«
»Du hast keine Lizenz zum Schrott sammeln«, entgegnet Gerard. »Was du tust, ist Einbruch, Untersuchung von Privateigentum ohne Durchsuchungsbefehl.«
Bohannon zieht einen weißen Strickpullover mit Zopfmuster aus dem Sack und hält ihn hoch. Darauf sind Blutflecken zu sehen. Und als Nächstes eine brandneue Damenjeans, ebenfalls mit Blut bespritzt. »Hundert zu eins«, sagt er zu Gerard, »dass diese Flecken zu Cedric Lubowitz' Blutgruppe passen – und zu seiner DNS.« Er bringt ein paar teure Damenlaufschuhe mit flachen Absätzen zum Vorschein und dreht die Sohlen nach oben. Mit dem Fingernagel holt er Stückchen von Eichen- und Eukalyptusblättern sowie Kiefernnadeln heraus. »Solches Material lag überall um die Leiche herum.« Er schaut Gerard an, dessen Gesicht ausdruckslos ist. »Du sagst also, ich habe das hier zu unzulässigen Beweismitteln gemacht.«
»Das wäre tatsächlich so«, antwortet Gerard, »aber – als ich erfuhr, dass du unterwegs bist, hinter meinem Rücken mit Häftlingen sprichst, im Depot die Reifen von Lubowitz' Auto untersuchst und dich überhaupt wieder wie der alte Spürhund aufführst, habe ich einen Durchsuchungsbefehl besorgt.« Er zieht das gefaltete Papier aus seiner Uniformtasche, schiebt Bohannon zur Seite und wühlt selbst in dem Müllsack. »Die Brieftasche«, verkündet er und hält sie hoch.
»Ist es nicht grässlich, wie Recht ich immer habe?«
Gerard wendet sich dem Haus zu. »Bring das Zeug mit. Nehmen wir sie fest.«
Er drückt auf den Klingelknopf an der breiten Veranda. Die Tür ist mit ansprechender Bleiverglasung umrahmt. Das Motiv sind kalifornische Wildblumen: gelber Mohn, blaue Lupinen, weiße Palmlilien. Plötzlich fliegt die Tür auf, und Dolores Combs steht wütend da, eine grobknochige Frau, das weiße Haar in einem flotten Kurzhaarschnitt. Kunstbeflissene Frauen in Settlers Cove bevorzugen Sweatshirts, aber sie nicht. Eine Hemdbluse aus brauner Schantungseide; maßgeschneiderte Damenhosen; eine Halskette aus Jade, wahrscheinlich von Gump. »Ich habe Sie gewarnt …«, fängt sie an. »Ach, Sie sind es, Lieutenant Gerard. Verzeihen Sie. Ich glaubte, es seien schon
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