Wenn Die Nacht Beginnt
auf, geht zur Tür und bleibt im Rahmen stehen. »Keiner hat mir die Resultate des Gerichtsmediziners gegeben. Nein, sag nichts, lass mich raten. Er wurde aus der Nähe erschossen, stimmt's? Aus nur ein, zwei Meter Entfernung und durch die Brust. Er hat seinem Mörder ins Gesicht gesehen. Sein Mörder war ein Freund.«
»Das muss er wohl geglaubt haben.« T. Hodges räumt die Teller ab und trägt sie zur Spüle. »Geh du los und finde heraus, was du wissen willst«, ruft sie. »Ich kümmere mich hier um alles.«
»An einem Tag wie diesem«, überlegt er, »wird es jede Menge Leute geben, die reiten wollen. Du wirst heute Abend zum Umfallen erschöpft sein.«
»Sei vorsichtig«, sagt sie nur.
Und er nimmt seinen Hut und geht.
Steve Belcher sitzt auf der Pritsche in seiner Zelle und starrt finster vor sich hin. Draußen ächzen riesige alte Eukalyptusbäume im Wind. Der dicke Freddy May steht an der sandfarbenen Löschbetonwand. Bohannon lehnt sich gegen die Gitterstäbe. Weiter vorn spielt jemand leise Mundharmonika. Ein schwieriges Lied. ›I'm comin' back, if I go ten thousand miles …‹ Eine billige Kaufhausmundharmonika schafft das nicht, aber der Spieler versucht es.
Bohannon wiederholt seine Frage:
»Du sagst, da ist jemand rumgeschlichen, und du hast geschossen, um ihn zu verscheuchen. Wie hat der Kerl ausgesehen, Steve?«
»Woher, zum Teufel, soll ich das wissen? Es war Mitternacht. Kohlrabenschwarz.«
»Groß, klein?«, fragt Bohannon weiter. »Dick, dünn, was hat er angehabt?«
»Ich hab nur gehört, wie er rumgetrampelt ist«, antwortet Belcher.
May sagt mit seiner leisen Stimme: »Es war Kelly, stimmt's? Dein Sohn Kelly?«
»Ach, Mist«, entfährt es Belcher, und er wischt sich mit der Hand von oben nach unten übers Gesicht. »Ist er jetzt auch da reinverwickelt?«
»Seit gestern Abend«, bestätigt Bohannon. »Er ging dort hinauf, und du hast geschossen. Also, das war, nachdem Mr. Lubowitz erschossen wurde, nachdem der Täter die Waffe gegen deinen Campingbus geschleudert hatte.«
Aber Belcher schüttelt den struppigen Kopf. »Das war er nicht. Der da war größer, schwerer. Kellys Kopf ist rasiert, aber der hatte Haare.«
»Das ist alles?«, fragt Bohannon. »Kleidung? Stimme? Irgendetwas sonst?«
»Ist Hals über Kopf durch die Bäume davongestürzt.« Belcher grinst. Seine Zähne sind in einem jämmerlichen Zustand. »Vielleicht war es ein Bär.«
»Du willst uns nicht helfen, dich da rauszuholen? Na gut.« Bohannon seufzt, richtet sich auf, schaut durch die Gitterstäbe. »Vernon?«
Fred May fragt noch: »Und Kelly – willst du ihm auch nicht helfen?«
Ein Wächter mit einer großen Pistole im Halfter an der Hüfte kommt und schließt die Zellentür auf. Bohannon geht hinaus, May folgt ihm. Die Tür schließt sich. Sie folgen der Wache über den Flur.
Und Belcher ruft ihnen nach: »Es könnte eine Frau gewesen sein.«
Bohannon geht zügig weiter, aber er lächelt und meint: »Ah!«
Er tastet sich mit seinem grünen Lieferwagen in einen der schrägen Parkplätze vor dem Drugstore. Zwei schläfrige alte Huskys mit blassen Augen schauen ihn an, als er vorübergeht. Einer von ihnen schnüffelt an seinen Stiefeln. Er tritt in den glänzenden Laden und bleibt stehen, um nach Mrs. Vanderhoop zu suchen. Da hinten ist sie, bei der Rezeptetheke. Als er näher kommt, sieht er, dass sie mit einem kahlköpfigen kleinen Mann spricht, der in dem örtlichen Ensemble Cello spielt. Mrs. Vanderhoop, die Frau des Apothekers, dem der einzige Drugstore in Madrone gehört, ist selbst eine viel beschäftigte Teilzeitmusikerin: sie spielt Klavier. Bohannon erinnert sich jedoch, dass sie früher sang. Sie sieht ihn und lächelt ihn an, entschuldigt sich bei Mister Cello und kommt zu ihm. Sie ist grauhaarig und dünn, trägt meist schlichte Röcke, Navajo-Blusen, indianischen Schmuck.
»Mr. Bohannon?« Ihr Gesichtsausdruck ist besorgt. »Ist es nicht schrecklich? Dieser arme Mann – Liebowitz?«
»Lubowitz«, korrigiert Bohannon. »Hören Sie, Sie können etwas berichtigen, was ich gehört habe. Er kam hierher, um seine Schwägerin Mary Beth zu sehen? Hätte er sie nicht bei der Beerdigung ihrer Schwester, seiner Frau, sehen können?«
»Oh, nein.« Mrs. Vanderhoop schüttelt bestimmt den Kopf. »Nicht, dass Mary Beth ihre Schwester nicht geliebt hätte – aber Dolores hätte es nicht erlaubt. Sie hatten einen schrecklichen Streit deswegen. Als ich zurückging, weil ich nach einer Probe etwas
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