Wenn die Nacht dich kuesst...
wenn sie an die kurzen Momente in seinen Armen, in seinem Bett dachte — andere würde sie nie kennen lernen.
Sie glitt tiefer in den Raum, ihre Hausschuhe machten kaum ein Geräusch auf dem Aubusson-Teppich. Als wäre sie der Ehrengast auf einer Teegesellschaft, war die Schachtel mit dem Kleid offen gelassen worden und stand aufrecht auf dem Damastsofa, wo das Kleid am besten bewundert werden konnte. Noch vor wenigen Stunden war Caroline von seiner Schönheit ebenso überwältigt gewesen wie ihre Schwestern. Jetzt weckte der bloße Gedanke, dass es Viviennes Haut berührte, heftigen Widerwillen in ihr. Wenn das Kleid nicht mehr als ein Leichentuch war, dann war die Schachtel ein Sarg, der darauf wartete, zugenagelt zu werden — mit all ihren Träumen darin.
Dennoch zog das Kleid sie unwiderstehlich an. Zögernd fuhr Caroline mit den Fingerspitzen über den schimmernden Tüll. Sie fragte sich, wie die junge Frau wohl gewesen war, die es früher getragen hatte. Hatte sich ihr Herzschlag beschleunigt, wann immer Adrian den Raum betrat? Hatte sie sich beinahe schmerzlich nach ihm gesehnt, wann immer er ihr eines seiner trägen Lächeln schenkte? Hatte sie geglaubt, er würde kommen und sie retten, bis zu dem Moment, als sie ihr undenkbares Ende in den Händen eines Mannes fand, dem sie vertraut, den sie aber nie geliebt hatte?
Caroline nahm ihre Hand von dem Kleid und drehte sich wieder zu ihren Schwestern um. Es schien ihr, als sei es erst gestern gewesen, dass sie kleine Mädchen waren mit zerschrammten Knien und losen Zöpfen. Jetzt standen sie auf der Schwelle zur Frau. Sie schliefen mit einem Lächeln auf den Lippen, während sie von schönen Kleidern, Maskenbällen und gut aussehenden Prinzen träumten, die sie vor allen Gefahren retten würden.
Caroline streckte die Hand aus, um Vivienne an der Schulter zu berühren, entschlossen, sie aus diesen Träumen aufzuwecken und von hier fortzubringen, ehe sie sich in Albträume verwandelten. Aber etwas hielt sie zurück.
Im Geiste sah sie Adrian auf dem Steg oben stehen, den Wind im Haar. Obwohl er kein Mann war, der bettelte, hatte sie ein Flehen in seinen Augen gesehen. Sie dachte an die Jahre, die er Duvalier und andere Ungeheuer wie ihn gejagt hatte, und an das ungeheure Ausmaß der Opfer, die er gebracht hatte, um das Geheimnis seines Bruders zu wahren. Während andere Männer seines Alters und gesellschaftlichen Ranges bis zum Morgen tanzten, ihre Vermögen am Spieltisch verloren und verheiratete Frauen verführten, hatte er die vergangenen fünf Jahre von seinesgleichen getrennt in den Schatten gelebt, genau wie die Bestien, die er jagte.
Was würde sie an seiner Stelle tun? Sie schaute zu Portia, während sie Vivienne sanft übers Haar strich. Wie weit würde sie gehen, um das Leben ihrer Schwestern zu retten? Ihre Seelen zu retten?
Sie hatte geglaubt, ihre Tränen seien versiegt, aber sie hatte sich geirrt. Sie brannten ihr in den Augen, als sie erkannte, was genau sie tun würde.
Alles.
Einfach alles.
17
»Was soll das heißen, ich kann nicht zum Ball? Wie kannst du nur so gemein sein?«
Caroline blickte auf Portia hinab, wappnete sich gegen den verletzten Ausdruck in den Augen ihrer Schwester. Es fühlte sich doppelt grausam an, diesen Schlag auszuteilen, während sie mitten in Portias Schlafzimmer standen, umgeben von Unterröcken, bunten Bändern und Spitze. Nur mit Unterhemd und Pantoletten bekleidet, das dunkle Haar in Lockenpapier, sah Portia kaum älter als zwölf Jahre aus. Die offene Schachtel Reispuder mit ihrem schimmernden Inhalt auf der Frisierkommode hätte auch Feenstaub sein können, der darauf wartete, ein unbeholfenes junges Mädchen für seinen ersten Ball in eine schöne junge Frau zu verwandeln.
»Ich bin nicht gemein«, entgegnete Caroline. »Ich bin einfach nur vernünftig. Du bist noch nicht bei Hofe vorgestellt, also hattest du auch nie eine offizielle Einführung in die Gesellschaft. Es wäre einfach nicht richtig, wenn du mit hochfrisiertem Haar und im Abendkleid an einem Ball teilnimmst, bei dem auch einige der tonangebenden Mitglieder der guten Gesellschaft anwesend sind.«
»Aber ich bin siebzehn!«, beklagte sich Portia. »Wenn ich nicht bald in die Gesellschaft eingeführt werde, fliege ich gleich wieder heraus, weil ich zu alt bin!« Ihre Augen verengten sich vorwurfsvoll. »Und außerdem bist du auch nie offiziell eingeführt worden, und du gehst trotzdem auf den Ball.«
»Mir bleibt keine andere Wahl. Deine
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