Wenn die Nacht dich kuesst...
zu spielen. Die Wiesen und Lichtungen um die Burg waren ihre Schlachtfelder und Meere gewesen. In ihrer Phantasie war der Bauernkarren, der über die holperige Straße unten ratterte, eine exotische Karawane der Sarazenen geworden, beschützt von dunkeläugigen, säbelschwingenden Kriegern, während die Schindmähre vor dem Karren sich in einen stolzen Araberhengst und der räudige Köter des Bauern in ein wildes Wolfsrudel verwandelten, das nach ihrem Blut lechzend die Burg bestürmte. Damals waren ihre unsichtbaren Feinde mit nicht mehr als einem gellenden Schlachtruf und einem Hieb mit dem Holzschwert in die Flucht zu schlagen gewesen. Julian hob die Champagnerflasche in seiner Hand an die Lippen und wünschte sich zurück in jene Zeit, in der alles viel einfacher gewesen war.
Heute Nacht war die holperige Straße unten mit flackernden Lichtern schaukelnder Kutschenlampen übersät. Ihre Gäste reisten einer nach dem anderen ab und nahmen Julians letzte Hoffnungen mit sich.
»Es tut mir Leid«, erklärte Adrian leise und blieb dicht hinter ihm stehen, während er zuschaute, wie die Kutschen mit der Dunkelheit verschmolzen. »Ich wollte sie weitermachen lassen, aber ich konnte es einfach nicht. Noch nicht einmal für dich.«
»Wenn ich auch nur eine halbe Seele hätte, hätte ich dich nicht darum gebeten«, erwiderte Julian achselzuckend.
»Ich weigere mich zu glauben, dass Eloisas Geist zu benutzen, um ihn in unsere Falle zu locken, unsere letzte Hoffnung war.«
Julian schnaubte abfällig. »Es war vielleicht unsere einzige Hoffnung.«
»Ich schwöre dir, dass wir einen anderen Weg finden werden. Ich werde einen anderen Weg finden. Ich brauche bloß mehr Zeit.«
Julian drehte sich um und schenkte seinem Bruder ein schiefes Lächeln. »Zeit ist das Einzige, was ich im Übermaß habe. Ich kann dir eine Ewigkeit geben, wenn es das ist, was du brauchst.«
Selbst während er die Worte aussprach, wusste Julian, dass er bluffte. Seine Zeit lief schon seit einer ganzen Weile ab, seine Menschlichkeit rann allmählich aus ihm heraus, so wie die Sandkörner aus einer zerbrochenen Sanduhr.
Adrian berührte ihn leicht an der Schulter, dann wandte er sich zum Gehen.
»Adrian?«
Sein Bruder drehte sich noch einmal um, und einen Augenblick lang sah Julian das Gesicht eines jüngeren Adrian über seinen Zügen.
»Wenn ich euch beiden meinen Segen geben könnte, würde ich es tun.«
Adrian nickte, ehe er mit den Schatten verschmolz.
Julian hielt sein Gesicht in den Wind und begrüßte dessen beißende Schärfe. Die Nacht hätte sein Reich sein sollen, sein Königreich sogar. Doch er saß hier, gefangen zwischen zwei Welten mit nur einer Flasche Champagner, um den Hunger zu stillen, der an der Stelle an ihm nagte, wo einst seine Seele gewesen war.
Er hob die Flasche gerade erneut an seine Lippen, als aus dem Nichts die Kette kam, die sich brutal um seinen Hals schlang. Die Flasche entglitt seinen Fingern und zerbarst auf den Steinen. Julian zerrte an den schweren Kettengliedern und wehrte sich gegen den würgenden Zug, aber seine übernatürlichen Kräfte schienen ihn zu verlassen, fielen von ihm ab wie die welken Blütenblätter von einer sterbenden Rose.
Seine Augen traten hervor, er blickte an sich herab und entdeckte das silberne Kruzifix am Ende der Kette, ehe es sich durch sein Hemd und in seine Brust brannte. Der Gestank versengten Fleisches stieg ihm in die Nase.
Während er noch darum rang, einen wütenden Schmerzenslaut aus seiner Kehle zu zwängen, drang ein heiseres Flüstern an sein Ohr. »Du hättest deinen Bruder nicht anlügen sollen, mon ami . Deine Zeit ist gerade abgelaufen.«
Als Duvalier ihn mitleidslos auf die Knie riss, war alles, woran Julian denken konnte, was für eine verdammte Schande es wäre, wenn Adrian nie erführe, dass ihr Plan funktioniert hatte.
20
»Ich begreife, dass meine Schwester nur mein Bestes im Sinn hatte, und ich bin Ihnen für Ihre Bereitschaft dankbar, den Forderungen des Anstands zu entsprechen«, sagte Caroline, ihr Ton sowohl kühl als auch gemessen, »aber nachdem ich eben in meinen Ausführungen kurz meine Argumente umrissen habe, denke ich, habe ich deutlich gemacht, warum mir keine andere Wahl bleibt, als Ihren Antrag abzulehnen.« Sie beendete ihre kleine Ansprache hoch erhobenen Hauptes und mit ordentlich vor sich gefalteten Händen — ein Bild der personifizierten Vernunft.
Wenigstens hoffte sie das. Da sie niemanden hatte, dem sie ihre wohl einstudierte
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