Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
funktionieren? Schließlich hatte sie auch in Seths Traum ein Fenster geöffnet.
Nele öffnete die Augen wieder und starrte erneut in die Dunkelheit jenseits des Schlüssellochs. Das konnte doch nicht so schwer sein. Nur etwas Licht, damit sie wenigstens ein bisschen mehr sah…
Langsam, ganz langsam wich die Schwärze einem düsteren Grau. Nele hielt den Atem an. Es funktionierte! Sie konnte es!
Aber nur einen Augenblick später wich die Euphorie einem Zittern, das sich durch Neles ganzen Körper zog.
Denn was sie sah, war nicht etwa der Raum, der auf der anderen Seite der Tür lag. Es war nichts, was mit einem Zimmer in irgendeiner Weise vergleichbar gewesen wäre– und doch war es Nele geradezu unheimlich bekannt. Dunkles Anthrazitgrau mit silbrigen Schlieren, die waberten und sich verformten und zu immer wechselnden Bildern verschwammen. Sie hatte das schon einmal gesehen. Sie hatte sogar, wenn auch nur für wenige Augenblicke, mitten darin gestanden.
Das Nachtglas.
Nele presste die Hände gegen die Tür und starrte durch das Schlüsselloch. Das Nachtglas! Die Grenze, die die Träume von der Unendlichkeit trennte, wo es nichts anderes als Träume gab. So ähnlich hatte Seth es doch beschrieben! Warum war es hier? Was hatte das zu bedeuten? Und vor allem: War Jari da drüben? War er es, der dort atmete und weinte, hinter dem Nachtglas? War das möglich?
»Jari«, flüsterte Nele und hielt ihren Mund dabei ganz nah an das Schlüsselloch, durch das sie eben noch gesehen hatte. »Jari, kannst du mich hören?«
Der Atem auf der anderen Seite stockte, und für einen Augenblick wurde es totenstill. Nele presste ihr Ohr gegen das glatte Holz. »Bitte«, wisperte sie. »Hier ist Nele, ich bin hier, um dir zu helfen… aber du musst mir sagen, wie ich diese Tür aufmachen kann!«
Jenseits des Schlosses blieb es ruhig. Aber Nele glaubte zu hören, dass der Atem nun ganz flach ging, aufgeregt und ein bisschen zu schnell. Oder täuschte sie sich?
»Jari?«, flüsterte sie noch einmal. »Bitte, sag doch, ob du mich hörst…«
»Nele?« Die Stimme, die ihr antwortete, schwang irgendwo zwischen Erleichterung und Verwirrung, Erkennen und Misstrauen. Aber es gab jetzt keinen Zweifel mehr. Das war Jari, Jari und niemand sonst! »Nele …?«
In diesem Augenblick ertönte hinter Nele ein heiseres Husten, wie ein Bellen. Mit einem Ruck fuhr sie herum. Das Monster im Wohnzimmer! Es war wach! Im gleichen Moment keuchte Jari hinter der Tür erschrocken auf– und vor Neles Augen brach der Traum in Stücke.
Die Rückkehr war wie ein erneuter Sturz, ein rasender Fall durch unendliche Schwärze. Nur dass es diesmal aufwärts ging, rückwärts, ein irrationales, absurdes Gefühl des Fallens nach oben, in einer wilden Spirale wie in einem Wirbelsturm, der Nele aufwärtszog, während sie gleichzeitig den Eindruck hatte, ins Bodenlose geschleudert zu werden. Innerhalb weniger Augenblicke wurde ihr speiübel, und sie hatte das Gefühl, ihr Magen würde erst ausgewrungen und dann von innen nach außen gestülpt.
Glücklicherweise war es nur einen Wimpernschlag später schon wieder vorbei. Nele spürte ihren eigenen Körper unkontrolliert zucken und dann ihre Lider flattern– auf und zu, auf und wieder zu. Schwärze wechselte mit bläulicher Dunkelheit, durchwirkt vom Schein einer Straßenlaterne. Und dann fühlte sie kräftige Arme, die sie fest an eine warme Brust drückten. Sanfte Hände strichen über ihren Rücken.
»Schscht. Ruhig, Nele«, flüsterte eine vertraute Stimme. Eine Stimme, die sie gerade noch gehört hatte und die doch allein durch ihren Tonfall eine ganz andere war. »Du bist zurück. Dir passiert nichts.«
Nur ganz langsam entwirrte sich das Knäuel aus Empfindungen, in das Nele sich während des wilden Ritts zurück in die Realität verstrickt hatte. Ihr Atem zitterte und stockte und ihr Puls raste noch immer. Aber allmählich kam zumindest das Gespür für die Wirklichkeit zurück, konnte sie wieder ausmachen, wo oben und unten war, und den Stoff ihres Shirts spüren, der schweißnass an ihrem Rücken und ihrem Bauch klebte.
»Jari«, murmelte sie matt. »Ich habe ihn gefunden…«
Die Arme, die sie hielten, drückten sie ein wenig fester. Und nun begriff Nele auch, dass das Pochen an ihrem Brustkorb vor allem deshalb so laut und unregelmäßig war, weil dort nicht nur ein Herz schlug, sondern auch noch ein zweites. Seths.
Unwillkürlich versteifte sich Nele und wand sich aus der Umarmung, rückte von
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