Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
Vernunft geblieben war. Und immerhin eines war sicher: Wenn Tora bei ihren Erkundungen etwas auffiel, das Seth so sehr belastete, dass er Faes Vertrauen endgültig verlor – dann würde sie ganz sicher nicht zögern, der Göttin davon zu berichten. Nicht eine einzige Sekunde lang.
Seth aufzuspüren, war kinderleicht. Selbst jetzt noch, wo er nicht mehr nach Katerart sein Revier in der Menschenwelt markierte – zumindest hoffte Tora, dass er sich damit zurückhielt –, war seine Spur geradezu lächerlich einfach zu verfolgen. Alle Wächter des Nachtglases waren in der Lage, einander aufzuspüren, und Toras Sinne waren besonders fein. Mithilfe ihres Katzenkörpers, den sie in der Menschenwelt benutzen musste, überquerte sie ohne Schwierigkeiten Zäune, Mauern oder dichtes Gestrüpp und kam so schneller voran, als es jedem Menschen möglich gewesen wäre. Mitternacht war kaum vorüber, als sie schließlich den glatten Stamm einer Birke hinaufkletterte und über einen Ast balancierte, der sich ein gutes Stück zum Balkon eines kleinen Einfamilienhauses hinüberneigte. Tora spähte durch die großen Fensterscheiben in das Haus hinein. Ihre Schwanzspitze zuckte leicht. Das Zimmer eines Menschenmädchens. Sie rümpfte die Nase. Wie die meisten ihrer Artgenossen hielt Tora nicht allzu viel von Menschen. Sie waren blind und blass und taugten auch sonst zu nicht viel, außer Chaos in der Traumwelt anzurichten. Was tat dieser verlauste Möchtegerncasanova hier bloß? Er würde doch nicht …?
Tora schüttelte sich, um den Gedanken loszuwerden. Allein bei der Vorstellung sträubte sich ihr Nackenfell. Dieser Seth. Er gehörte wirklich eingesperrt! Oder noch besser: verbannt. Irgendwohin, wo er niemandem mehr zur Last fallen oder aus purer Langeweile Unheil stiften konnte. Tora hätte es jedenfalls keineswegs überrascht, wenn sie schon heute Nacht einen Bericht über das beschämende Verhalten des Katers an ihre Göttin würde überbringen dürfen.
Mit einem langen Satz sprang sie hinüber auf den Balkon und schlich ein paarmal vor der Glastür und unter den großen Fenstern auf und ab. Dort drin war Seth, daran bestand kein Zweifel. Sie spürte seine Gegenwart, sie konnte ihn sogar atmen hören. Aber ebenso sicher war wohl auch, dass er nicht allein war. Tora setzte sich vor die Tür, legte den Schwanz sorgsam um ihre Pfoten und dachte nach. Es schien ihr ein wenig eigenartig, dass Seth sie noch nicht bemerkt hatte. Vielleicht waren seine Sinne durch den Menschenkörper getrübt? Oder ignorierte er ihre Anwesenheit einfach? Überraschen würde sie das nicht, dachte Tora ärgerlich. Aber so sprang man mit ihr nicht um – schon gar nicht Seth.
Sie stand auf, stellte sich auf ihre Hinterpfoten und drückte probehalber gegen die Tür. Sie rührte sich nicht. Tora schnaufte. Dann eben nicht. Sie musste nicht im selben Zimmer sein, um mit Seth zu sprechen. Sie sprang auf das schmale Sims vor den Fenstern, wo der dicke Vorhang mit dem Blümchenmuster ihr nicht die Sicht verdeckte, und starrte in die grauen Schatten des Zimmers hinter der Scheibe. An der Wand zu ihrer Rechten stand ein Bett – und unter der Decke zeichneten sich die Umrisse zweier Körper ab.
Tora schnappte nach Luft. Also doch! Dieser grässliche, verantwortungslose …!
Sie stieß einen leisen Ruf aus, wobei sie sich nicht bemühte, ihren Ärger zu verbergen. Ein Ruck ging durch die Stille. Und obwohl sich im Zimmer noch immer nichts rührte, wusste Tora: Jetzt, spätestens, war Seth wach. Und er wusste, wer ihn gerade besuchen kam. Seine Aufmerksamkeit prickelte unter Toras Fell auf ihrer Haut, als ob ein leichter Stromstoß durch sie hindurchginge.
›Tora. Was tust du hier?‹ Seths lautlose Stimme klang eindeutig gereizt. Ganz sicher hatte Tora ihn gestört – ein Gedanke, der sie mit Genugtuung erfüllte.
›Das Gleiche könnte ich dich fragen. Schämst du dich nicht?‹
Jetzt endlich kam Bewegung in den Schemen unter der Decke. Seth drehte sich halb herum und Tora konnte seine Augen in der Dunkelheit glühen sehen. ›Das geht dich gar nichts an. Verschwinde.‹
In ihrer Wächtergestalt hätte Tora höhnisch die Brauen gehoben. So aber starrte sie Seth nur kühl an. ›Ach, das geht mich also nichts an? Ich bin nicht zum Spaß hier, du räudiger Hund. Was glaubst du, wird Fae sagen, wenn sie erfährt, dass du dich mit einem Menschenweibchen belustigst? Denkst du, so wird sie dich jemals zurückkehren lassen?‹
Ein leises Fauchen drang an ihre
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