Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
Schwärze, klaffte ein rechteckiges Loch, aus dem das Licht quoll, dem Nele die ganze Zeit gefolgt war. Jenseits des Absatzes führte die Treppe weiter nach unten, und wie hinter einer unsichtbaren Wand veränderte sich dort das Licht und wurde zu einem sanften, steten Grau.
Nele blieb stehen. Der Wind, den sie schon zuvor gehört hatte, drang aus dem Fenster und strich an ihr vorbei. Nele blinzelte, als sie noch näher herantrat und das Licht direkt in ihre inzwischen an die dämmrigen Verhältnisse gewöhnten Augen fiel.
Hinter der Öffnung lag eine weite Ebene, auf der sich kniehohes Gras im Wind beugte. Am Horizont reckte sich ein riesiger Baum in den anthrazitfarbenen Himmel. Ansonsten war weit und breit nichts zu sehen. Nichts und niemand. Nele runzelte die Stirn. Was jetzt? Das Fenster war groß genug, dass sie ohne Probleme hindurchklettern konnte. Aber wäre das wirklich klug? Versuchsweise streckte sie einen Arm durch die Öffnung. Der Wind strich über die bloße Haut an ihrem Handrücken und zupfte an ihrem Pullover. Nele fröstelte, zog den Arm zurück und legte die Hände auf die Kante des Fensters. Anders als zuvor fühlte sich die Schwärze nun fest an und sehr real, als besäße der Durchgang einen Rahmen aus Kunststoff oder glatt lackiertem Holz, den Nele nur nicht sehen konnte. Hindurchzuklettern wäre wirklich ganz leicht, sie müsste nur einen Fuß auf den Rahmen setzen und auf die andere Seite schlüpfen…
Eine Weile blieb sie reglos stehen und dachte nach, lauschte dem Gras, das sich wiegte und leise flüsterte. Sie war in Jaris Traumwelt, also war dies hier vermutlich eine seiner Traumlandschaften, ganz ähnlich ihrem eigenen Strand, an dem sie sich so gern aufhielt. Ob er dort draußen irgendwo war? Zu sehen war er jedenfalls nicht. Aber bei einer Ebene von diesen Ausmaßen hieß das natürlich gar nichts.
Nele warf einen Blick über die Schulter auf die Treppe und die Stufen, die weiter abwärts führten. Sie glaubte nun, zu begreifen, wie diese Welt aufgebaut war. Vermutlich gab es dort unten noch etliche weitere Szenarien, so unendlich wie die Fantasie. Und Jari konnte in jedem von ihnen stecken. Der Gedanke entmutigte Nele im gleichen Maße, wie er sie beruhigte. Es war gut, dass Jaris Träume offenbar zumindest mit einer gewissen Logik angeordnet waren. Aber allein die Vorstellung, wie lange sie darin nach ihm suchen konnte, wenn schon die erste seiner Landschaften so irrwitzige Ausmaße hatte, war mehr als frustrierend. Nele schüttelte den Kopf. Seth hatte es ja gesagt: Sie würde vermutlich eine ganze Weile brauchen, um sich zu orientieren, und es war mehr als unwahrscheinlich, dass sie Jari gleich im ersten Anlauf fand. Vermutlich war es am klügsten, wenn sie sich erst einmal auf der Treppe hielt und versuchte, zu verstehen, nach welchem System die Szenarien angeordnet waren– wenn es so ein System überhaupt gab. Wenn sie Jari doch nur ein bisschen besser kennen würde… Nele seufzte. Es hatte keinen Sinn, darüber nachzugrübeln, was ihr vielleicht hätte weiterhelfen können. Ändern konnte sie die Situation ja doch nicht.
Entschlossen wandte sie sich von der Ebene ab und wieder den Stufen zu. Nur kurz blieb sie noch einmal am Rand des Absatzes stehen, um ihren Augen die Zeit zu geben, sich erneut an die Dunkelheit zu gewöhnen. Das graue Licht begrüßte sie mit einem leisen Flackern, und Nele glaubte, einen Hauch von beruhigender Wärme auf den Wangen zu spüren. Aus der Tiefe des Treppenschachtes hörte sie nun eine Frauenstimme, die ein leises Lied sang. Und als sie sich wieder an den Abstieg machte, schien Nele die Umgebung schon viel sicherer als auf dem ersten Stück der Treppe. Die Stufen fühlten sich unter ihren Füßen beinahe vertraut an.
Es dauerte nicht lange, bis ein zweites Fenster vor ihr auftauchte. Die Frauenstimme war nun deutlicher zu hören, und Nele glaubte fast, den Text verstehen zu können. Und als sie durch das Fenster sah, war sie kaum überrascht, eine schwarz-weiße Version des Flurs in Jaris Wohnung zu erkennen. Allerdings war er sehr viel weniger schmutzig und verkommen, als Nele ihn wenige Tage zuvor in der Wirklichkeit gesehen hatte. Die Garderobe hing an der Wand, die Jacken waren ordentlich daran aufgehängt und mehrere Paar Schuhe darunter in einem Schuhregal aufgereiht. Der Kunststoffboden war frisch gewischt; der leichte Geruch nach Putzmittel hing noch in der Luft und mischte sich mit dem Duft von frisch gebackenem
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