Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
ihm ab, um ihm ins Gesicht blicken zu können.
»Ich habe ihn gefunden!«, wiederholte sie aufgeregt und starrte in Jaris Augen, die doch nicht seine waren. »Er ist dort gefangen! Ich muss zurück und ihn holen! Jetzt!«
Seth antwortete nicht gleich. Er musterte Nele nur, aufmerksam und eindringlich. Ein Funkeln lag in seinem Blick, das sie nicht recht deuten konnte. »Bist du dir sicher?«, fragte er schließlich. Seine Stimme klang zweifelnd.
Nele nickte energisch. »Ganz sicher! Er war es, er hat mich erkannt! Er hat mit mir sprechen wollen, und dann bin ich aufgewacht…«
Seth runzelte nachdenklich die Stirn. Dann schüttelte er den Kopf, löste eine Hand von Neles Hüfte und strich ihr behutsam durch die Haare. »Ganz ruhig, Sternenkind. Ich weiß, es scheint dir dringend. Aber du kannst jetzt nicht zurück.«
Nele sah ihn aufgebracht an. »Warum nicht? Ich muss! Ich kann ihn nicht…«
»Nele.« Seth legte einen Finger auf ihre Lippen und brachte sie so zum Verstummen. Sein Atem ging ein wenig schwer. »Ich weiß, was du denkst. Ich selbst möchte Jari doch am liebsten sofort dort herausholen. Aber glaube mir, es geht nicht. Ich kann dir nicht mehr als einen Fremdtraum in der Nacht erlauben. Merkst du denn nicht, wie sehr dich das anstrengt?«
Für einen Augenblick wollte Nele ihm energisch widersprechen. Sie hatte Jari gefunden, wie sollte sie jetzt warten können– und dann auch noch bis zur nächsten Nacht? Aber schon im nächsten Moment begriff sie, wie recht Seth hatte. Sie fühlte sich ausgelaugt wie nach mehreren Stunden harter körperlicher Arbeit oder einem Marathonlauf. Darüber hinaus hatte offenbar irgendjemand im Schlaf ihr Gehirn gegen einen nassen Schwamm ausgetauscht, der jedes Mal schwer gegen ihre Schädeldecke klatschte, wenn sie den Kopf bewegte. Es bereitete ihr schon Schwierigkeiten, klar genug zu denken, um ihren Protest in sinnvoll zusammenhängenden Sätzen zu formulieren.
Seths Hand strich unbeirrt weiter über ihren Kopf und ihren Nacken, ihren Rücken hinab und wieder hinauf, streichelte ihren Haaransatz und kehrte zurück zu ihrem Hinterkopf, um Neles Haare durch seine Finger gleiten zu lassen. Die Wärme, die seine Haut verströmte, war beruhigend.
»Du hast ihn gefunden«, raunte er sanft. »Schon beim ersten Versuch. Das ist so viel mehr, als wir gehofft hatten. Ich bin sehr, sehr stolz auf dich. Aber du darfst dich nicht überanstrengen. Wenn du dort drin das Bewusstsein verlierst, gehst du mir vielleicht auch noch verloren.« Ganz leicht nur berührten seine Lippen Neles Stirn. »Du und Jaris Träume, ihr habt euch wirklich etwas Ruhe verdient. Morgen erzählst du mir, was du erlebt hast, einverstanden? Wir machen einen Plan, wie wir weiter vorgehen sollen, und dann lasse ich dich dorthin zurückkehren. Ich verspreche es. Aber jetzt schlaf.« Ein Lächeln schwang in seiner Stimme. »Ich halte die Träume von dir fern.«
Nele wusste nicht mehr, was sie sagen sollte. Ja, sie musste schlafen, endlich einmal ganz ohne Träume…
Dass sie gähnte, lang und ausgiebig, hörte sie schon kaum noch. Seths Hand lag jetzt still, warm und ruhig auf ihrem Rücken. Sie hätte sich, dachte Nele noch verschwommen, vielleicht darüber Sorgen machen sollen, dass dieser fremde und eigentlich auch ein wenig unheimliche Junge noch immer so dicht bei ihr lag. Darüber, dass sie einfach neben ihm einschlief, ohne dass sie auch nur einen Hauch von Misstrauen verspürte. Dass unter seiner Berührung alles in ihr ganz entspannt und friedlich wurde, das hätte sie beunruhigen sollen.
Aber sie brachte es nicht fertig. Nicht einmal ein bisschen. Stattdessen schlief sie ein.
Achtes Kapitel
Tora wusste, was Fae gemeint hatte, kaum dass sie auch nur eine Pfote in die Menschenwelt gesetzt hatte.
Seth. Er war hier! Fae hatte ihn nicht nur ausgesperrt, sie hatte ihn in die Menschenwelt verbannt. Tora erkannte seine Signatur, die in der Luft seines verlassenen Reviers schwang; viel schwächer als sonst und vermischt mit dem Geruch eines gewöhnlichen Menschen, aber unverwechselbar. Tora war sich nicht sicher, ob sie über die Entscheidung ihrer Göttin entsetzt sein durfte. Aber sie begriff nun umso besser, warum Fae sie gebeten hatte, die Augen und Ohren offen zu halten. Es war ein Kindermädchenauftrag, um sicherzugehen, dass Seth keinen Unsinn anstellte. Keine vergnügliche Aufgabe, in der Tat. Doch vermutlich musste sie erleichtert sein, dass Fae in dieser Angelegenheit wenigstens so viel
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