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Wenn Die Wahrheit Stirbt

Titel: Wenn Die Wahrheit Stirbt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deborah Crombie , Andreas Jäger
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Und bei Sandras nächstem Besuch war die Kleine verschwunden.
    Sandra zog die Stirn in Falten, als sie sich an die Szene erinnerte, und Charlotte regte sich, als spürte sie die Unruhe ihrer Mutter. Sandra fürchtete, dass sie die Gelegenheit verpassen könnte, das Bild einzufangen, und so griff sie rasch nach ihrer Kamera und drückte auf den Auslöser. Dann ließ sie sich die Aufnahme anzeigen und nickte, als sie Charlottes schlafendes Gesicht sah, umrahmt von Seide, der Zeit enthoben.
    Der Zeit enthoben wie die Gesichter in den Käfigen in ihrer Collage. Plötzlich hatte sie eine Eingebung, und ihr Blick ging zu dem unvollendeten Werk. Wie wäre es, wenn sie … Wie wäre es, wenn sie für die Gesichter der Frauen und Kinder anstelle von Stoff und Farbe Abzüge von Fotos verwendete? Sie könnte die Gesichter von Frauen und Kindern aus ihrem Bekanntenkreis nehmen, wenn diese damit einverstanden waren.
    Charlotte streckte sich, schlug die Augen auf und lächelte verschlafen.
Sie war ein fröhliches Kind, selten quengelig, außer wenn sie müde oder hungrig war - Sandra war sich sicher, dass sie selbst es ihrer Mutter längst nicht so leicht gemacht hatte. Sandra legte ihre Kamera weg, bückte sich und nahm ihre Tochter in den Arm. »Na, gut geschlafen, Süße?«, fragte sie, während Charlotte ihr die Arme um den Hals schlang und sich an sie schmiegte. Charlottes Haare waren noch feucht von ihrem Schlaf in der warmen Sonne, und ihre hellbraune Haut strömte noch einen leisen Hauch von Babyduft aus. Doch sie gab ihrer Mutter keine Gelegenheit, ausgiebig mit ihr zu kuscheln.
    Stattdessen wand sie sich aus Sandras Armen los und lief zum Ateliertisch. »Entenstifte, Mami«, sagte sie und zeigte auf den leeren Becher. »Will auch malen.«
    Sandra überlegte. Sie warf einen Blick auf die Uhr, auf die sonnenhellen Fenster und dann wieder auf die halb fertige Collage auf dem Ateliertisch. Sie wusste aus Erfahrung, dass sie an einem Punkt angelangt war, an dem sie endlos den Rahmen anstarren könnte, ohne einer Lösung näher zu kommen. Und außerdem wollte sie ihre Idee mit den Fotos ausprobieren. Eine Pause war durchaus angebracht.
    Es war kurz vor zwölf. Charlotte war früh aufgewacht, und Sandra hatte sie einschlafen lassen, obwohl es für ihr Mittagsschläfchen noch zu früh war. Sie hatten ausgemacht, dass sie sich um zwei mit Naz zu einem späten Mittagessen treffen würden - falls er sich von der Arbeit losreißen könnte. Bei dem Gedanken schüttelte sie heftig den Kopf. Naz und Lou hatten viel zu hart an der Vorbereitung ihres anstehenden Prozesses gearbeitet, und Naz zeigte schon Anzeichen von Überlastung, was bei ihm selten vorkam. Sie hatten immer schon Wert darauf gelegt, den Sonntag für die Familie freizuhalten, und ganz besonders seit Charlottes Geburt. Sie waren fest entschlossen, ihr die Geborgenheit zu geben, die ihnen beiden in ihrer Kindheit versagt geblieben war.
    Naz hatte seine Eltern früh verloren. Als pakistanische Christen waren sie bei den gewalttätigen Unruhen in den Siebzigerjahren von fundamentalistischen Muslimen ermordet worden. Naz war nach London geschickt worden, in die Obhut eines Onkels und einer Tante, die
ihn jedoch bald als Belastung empfanden. Als er älter wurde, hatte er allmählich den Verlust seiner Kultur wie auch seiner Herkunftsfamilie nicht mehr ganz so schmerzlich empfunden.
    Und was Sandra betraf - ihr war allein schon der Gedanke an ihre Familie unerträglich.
    Aber dieser Fall jetzt, den Naz bearbeitete … die Schwierigkeiten irgendeines bengalischen Restaurantbesitzers mit der Justiz konnten ja wohl kaum so wichtig sein, dass man dafür aufs Spiel setzen durfte, was sie beide sich so sorgfältig aufgebaut hatten. Sie würde mit Naz reden müssen. Aber zunächst einmal war heute ein perfekter Maitag, und vorher blieb noch genug Zeit, um in der Columbia Road vorbeizuschauen.
    »Ich hab’ne bessere Idee«, sagte sie zu Charlotte und steckte die Buntstifte entschlossen zurück in den Becher. »Komm, wir besuchen Onkel Roy.«
     
    Sandra hielt Charlottes Hand, als sie die Brick Lane hinaufgingen und sich ihren Weg durch das Gedränge um die Marktstände bahnten. »Alles vom Laster gefallen«, war Naz’ leicht missbilligender Standardkommentar zum Sonntagsmarkt. Und er hatte natürlich recht. Die Hälfte der Waren, die hier verhökert wurden, war entweder von einem Lastwagen gefallen oder in einem solchen über den Kanal ins Land geschmuggelt worden. Aber Sandra liebte

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