Wenn Die Wahrheit Stirbt
sonst niemand an ihrem Bett.
Mit einem heimlichen Seufzer der Erleichterung küsste Gemma ihre Mutter auf die Wange. Ihre Haut fühlte sich warm an. »Wie geht’s dir?«, fragte Gemma und zog sich einen Stuhl heran. »Wieso bist du hier? Und wo sind Dad und Cyn?«
»Du hörst dich schon an wie dein Sohn.« Ihre Mutter hob mahnend den Zeigefinger.
»Ich weiß, ich weiß«, gab Gemma zu und lächelte trotz ihrer Sorgen ganz unwillkürlich. »Immer nur eine Frage auf einmal«, rezitierten sie beide gleichzeitig. Gemma musste lachen, doch gleich darauf wurde sie wieder ernst. »Nun sag schon, Mum, wie geht es dir?« Unwillkürlich ging ihr Blick zu dem Schlauch. »Cyn sagte etwas von einer Transfusion …«
»Ich bin ein bisschen schlapp«, antwortete Vi. »Die Ärzte sagen, das sind die Auswirkungen der Chemo auf mein Immunsystem, und deshalb brauche ich eine kleine Stärkung. Und meine Venen sind auch etwas mitgenommen, also wollen sie mir einen Port legen, um die Chemo zu erleichtern.«
Jetzt erst stellte Gemma die Verbindung zwischen den roten Flecken auf den Wangen ihrer Mutter und der Wärme ihrer Haut her. »Du hast Fieber.«
»Na ja, bloß ein bisschen.« Vi sah ihr nicht in die Augen. »Die Ärzte sagen, es ist nichts Ungewöhnliches. Niedriger Leukozytenwert.«
»Und wo sind nun eigentlich Cyn und Dad?«, fragte Gemma. Sie hatte den Verdacht, dass ihre Mutter ihren Fragen auswich, wollte aber vorläufig nicht nachhaken.
»Deine Schwester hat deinen Vater nach Hause gebracht - Gott sei Dank. So kann er sich ein bisschen erholen, und ich habe meine Ruhe.« Vi schloss die Augen. »Das ist das Schlimmste, weißt du - dass er sich so viele Sorgen macht. Ich gebe mir solche Mühe, nicht zu … Aber gestern, da war mir einfach plötzlich alles zu viel …«
»Mum.« Gemma nahm die Hand ihrer Mutter, während sie
über das sorgfältig austarierte Gleichgewicht in der Beziehung ihrer Eltern nachdachte. Seit ihre Mutter die Diagnose erhalten hatte, sah sie die Dinge ein wenig anders. Sie hatte immer ihren Vater für den dominanten Partner gehalten und geglaubt, dass es die Lebensaufgabe ihrer Mutter sei, für ihn zu sorgen und dabei ihre eigenen Bedürfnisse zurückzustellen.
Aber inzwischen war ihr klar geworden, dass das nur der äußere Eindruck war - etwas, was sie längst schon hätte erkennen können, wäre ihr Blick nicht durch ihren eigenen Platz in der Familiendynamik getrübt gewesen.
In Wirklichkeit war ihre Mutter die Stärkere von beiden, doch mit ihrer Entschlossenheit, seine Sorgen um sie zu zerstreuen, mutete sie sich eindeutig zu viel zu.
»Mum«, sagte Gemma noch einmal. »Vielleicht … Vielleicht solltest du zulassen, dass Dad sich um dich kümmert. Ich weiß, du willst weiter versuchen, für ihn zu sorgen, so, wie du es immer getan hast - so, wie du für uns alle gesorgt hast -, aber das … Ich glaube nicht, dass das gut für ihn ist. Wenn du ihm das Kommando überlässt, wenn du ihn für dich sorgen lässt, dann wird er sich vielleicht nicht ganz so … so hilflos vorkommen.«
»Und seit wann hast du ein Diplom in Psychologie?«, entgegnete Vi mit einem Anflug ihrer gewohnten Schroffheit, doch dann drückte sie Gemmas Hand und lächelte.
»Hazel würde mich wahrscheinlich wegen Hochstapelei anzeigen«, gestand Gemma reumütig. »Mum, ich wollte nicht -«
»Nein, nein, du hast wohl recht.« Vi seufzte. »Es ist bloß, weil er doch solche Angst hat, und ich kann mir nicht vorstellen, wie er zurechtkommen soll, wenn ich - na ja« - sie senkte die Stimme, als wollte sie Gemma irgendein dunkles Geheimnis anvertrauen - »wenn ich mal nicht mehr da sein sollte.Aber ich denke, wenn er lernt, sich um mich zu kümmern, wäre das immerhin ein Anfang.« Sie zog die Stirn in Falten und fügte hinzu: »Hat Cyn dir gesagt, dass ihr alle nicht als Spender in Frage kommt?«
»Ja.« Dass ihre Schwester es eigentlich Duncan gesagt hatte, erwähnte Gemma nicht. »Aber bestimmt - ich meine, es gibt doch eine internationale Spender-Datenbank, oder nicht?«
»Sie haben mich auf die Liste gesetzt. Aber sie meinten, die Chance, einen Spender zu finden, läge bei eins zu zehntausend.«
Zehntausend? Gemma hatte Mühe, ihren Schock zu verbergen, und sagte mit aller Überzeugung, die sie aufbringen konnte: »Du wirst keinen Spender brauchen. Du musst dich einfach nur ausruhen und die Therapien wirken lassen.«
»Genau.« Vi setzte sich ein wenig aufrechter hin, als hätten Gemmas aufmunternde Worte
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