Wenn Die Wahrheit Stirbt
großen Stadt hören, hier und da unterbrochen von einem Reifenquietschen oder einer knallenden Autotür.
Als das Badewasser allmählich abkühlte, wurde ihr bewusst, dass sie nur ihre eigenen Sorgen und ihre Verärgerung über ihre Schwester an Duncan abreagiert hatte, weil er nun einmal zufällig in der Nähe gewesen war. Sie trocknete sich ab und schlüpfte in einen Pyjama, fest entschlossen, sich zu entschuldigen, doch als sie aus dem Bad kam, war er schon eingeschlafen. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich an seinen Rücken zu kuscheln und seinem ruhigen Atem zu lauschen.
Noch bevor Duncan und die Kinder aufwachten, stand sie auf und zog sich rasch an. Sobald es ihr auch nur im Entferntesten akzeptabel erschien, rief sie ihre Schwester aus der Küche an, wo sie ihre Ruhe hatte und niemanden störte.
»Mensch, Cyn, wieso hast du nicht mich angerufen?«, zischte
sie, als ihre Schwester sich meldete, wobei sie sich bemühte, ihre Stimme zu dämpfen.
»Gemma!« Cyn schien freudig überrascht, doch es klang künstlich, und Gemma rutschte das Herz in die Hose. »Ich wollte dich gerade anrufen«, fuhr ihre Schwester fort. Im Hintergrund war Stimmengemurmel zu hören, doch Gemma glaubte nicht, dass es Cyns Mann Gerry und ihre Kinder Tiffani und Brendan waren.
»Wo bist du?«
»Im Krankenhaus. Im Royal London.« Gemma hörte ein Rascheln, worauf die Hintergrundgeräusche abebbten. Dann wieder die flüsternde Stimme ihrer Schwester: »Ich kann nicht reden. Du weißt, dass Handys auf der Station verboten sind.«
»Du bist auf einer Station? Was tust du da? Was ist passiert?«
»Mum geht es nicht so toll. Ihr Leukozytenwert ist gesunken. Sie kriegt eine Transfusion.«
»Eine Transfusion? Aber -«
»Pass auf, am besten kommst du einfach her, okay?« Dann brach die Verbindung ab.
Gemma hatte Duncan einen Zettel geschrieben und war gleich ins Auto gestiegen. Ihre Gedanken überschlugen sich, während sie durch die Stadt fuhr. Das Royal London Hospital war in Whitechapel, nicht weit von der Brick Lane, wo sie gestern gewesen war. Warum war ihre Mutter dort und nicht im Barts in der City, wo sie zuvor behandelt worden war? Die beiden Krankenhäuser gehörten zur gleichen Organisation und hatten eine gemeinsame Verwaltung - vielleicht hatte die Einlieferung ins Royal London ja etwas mit der Verfügbarkeit von Betten auf den verschiedenen Stationen zu tun und nicht mit der Notwendigkeit weitergehender Behandlungen.
Die Strecke führte sie an Marylebone und Euston, St. Pancras und King’s Cross vorbei, dann in die City Road und weiter die
Commercial Street hinunter. Hawksmoors Kirche wirkte im harten Morgenlicht noch abweisender und bot keinen Trost.
Ihr kurzer Blick in die Fournier Street jedoch hatte sie wieder beruhigen können. Sie sah so ruhig und gewöhnlich aus wie irgendeine beliebige Straße an einem Sonntagmorgen. Gemma überlegte kurz, ob sie Tim anrufen sollte, entschied aber dann, dass es dazu noch zu früh sei. Und sie war auch nicht in der Lage, mit irgendjemandem zu sprechen, solange sie nicht wusste, was mit ihrer Mutter los war.
Als sie auf der Whitechapel Road weiter Richtung Osten fuhr, wurde der Verkehr dichter, und die Straße war durch den Sonntagsmarkt verstopft. Zu jeder anderen Zeit hätte die bunte Auswahl an asiatischen Lebensmitteln und Gewürzen sie in Versuchung geführt, aber als sie endlich den ebenso weitläufigen wie hässlichen Gebäudekomplex des Royal London Hospital erreichte, war sie schon ganz unkonzentriert vor Ungeduld. Wenigstens mit dem Parken hatte sie Glück - in einer Seitenstraße fand sie eine Lücke mit einer Parkuhr.
Am Empfang fragte sie nach ihrer Mutter und wurde auf eine Station in einem der Nebengebäude geschickt. Gott, sie hasste Krankenhäuser - und sie hasste dieses Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins; das Gefühl, dass sie nichts, aber auch gar nichts tun konnte, um ihrer Mutter zu helfen.
Sie drückte auf den Klingelknopf, worauf eine Schwester sie mit dem Summer einließ und zum Bett ihrer Mutter führte, das mit einem Vorhang abgeteilt war. Die Energie, die Gemma beflügelt hatte, seit sie an diesem Morgen aufgewacht war, schien plötzlich aufgebraucht, und ihre Hand zitterte, als sie den Vorhang zur Seite zog.
»Was sehen meine müden Augen?«, begrüßte ihre Mutter sie. Vi Walters lag auf Kissen gestützt in einem Krankenhausbett; in ihrem Arm steckten Infusionsschläuche. Sie sah blass, aber munter aus, und es war
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