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Wenn Die Wahrheit Stirbt

Titel: Wenn Die Wahrheit Stirbt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deborah Crombie , Andreas Jäger
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unbehandelten Dielen ausgelegt, und das Licht fiel durch ein großes Fenster in der Vorderfront ein. Nur etwa ein halbes Dutzend Werke hingen an den Wänden. Gemma war sich nicht sicher, ob man sie »Gemälde« nennen konnte, denn sie waren schwarzweiß, bis auf einen einzelnen blutroten Farbspritzer auf jedem Bild.
    Fasziniert trat sie näher. Die akribisch ausgeführten Zeichnungen erinnerten sie an die Märchen von Hans Christian Andersen, die sie Toby vorgelesen hatte. Sie hatten etwas Magisches, Ahnungsvolles - eine Atmosphäre, die an tiefe, verschneite
Wälder denken ließ.Weibliche Gestalten verwandelten sich in Wölfinnen, männliche in Hirsche, und halb geformte Wesen lugten hinter Felszacken und Ästen hervor. Das Rot war von unmittelbarer, schockierender Intensität. Und schockierend waren auch hier die Preise.
    Gemma trat zurück und sah sich um. Der lange Saal schien menschenleer, doch am Ende war eine Tür. Sie ging darauf zu und rief: »Ist da jemand?«
    Eine Frau kam heraus, und Gemma hatte das Gefühl, als sei eine der Zeichnungen an der Wand plötzlich lebendig geworden. Sie war elfenhaft schlank und ganz in Schwarz gekleidet, doch ihre Haut und ihre Haare waren fahl wie Eis. »Entschuldigen Sie«, sagte sie, »ich war gerade am Telefon. Kann ich Ihnen helfen?« Ihr Akzent war gepflegt, ihre Stimme überraschend rauchig.
    »Sind Sie Pippa Nightingale?«, fragte Gemma. Als sie näher trat, sah sie, dass die Augen der Frau rot waren, als ob sie geweint hätte.
    »Ja.« Sie klang jetzt leicht misstrauisch. »Hat jemand Sie geschickt?«
    »Nicht direkt.« Gemma gab ihr eine gekürzte Version der Erklärung, die sie Roy Blakely vorgetragen hatte, und endete mit den Worten: »Mr. Blakely sagte, Sie und Sandra hätten sich schon lange gekannt und Sie hätten Sandras Arbeiten vertreten. Also habe ich mich gefragt, ob Sie mir vielleicht mehr über Sandras Verhältnis zu ihrer Familie sagen könnten.«
    Pippa Nightingales Augen füllten sich mit Tränen, und ihre Finger krampften sich in den Stoff ihres schwarzen Jerseyrocks. »Ich kann nicht glauben, dass Naz tot ist«, flüsterte sie.
    Im Ausstellungsraum gab es keine Sitzgelegenheiten, doch durch die offene Tür des Büros erspähte Gemma zwei Plastikstühle mit Chromgestell. Sie führte Pippa hinein und sagte: »Kommen Sie, setzen Sie sich doch erst mal.« Pippa ließ sich
auf einen der Stühle sinken, die Fingerrücken gegen die Oberlippe gepresst. »Kann ich Ihnen einen Tee oder etwas anderes zu trinken bringen?«, fragte Gemma.
    Pippa holte stockend Luft. »Auf dem Arbeitstisch steht ein Wasserkocher, und da finden Sie auch Teebeutel.« Sie deutete mit dem Kopf zum hinteren Teil des Zimmers. Im Gegensatz zum Ausstellungsraum herrschte im Büro ein ziemliches Chaos - es hatte den Anschein, als sei jedes überflüssige Teil, das die makellose Reinheit der Galerie hätte stören können, in dieses Zimmer verbannt worden. Papiere überfluteten den Schreibtisch und sämtliche horizontalen Flächen, überquellende Aktenordner lagen aufgeklappt herum, und Stapel gehefteter Ausstellungsprospekte türmten sich bedenklich nahe an den Tischkanten.
    Gemma fand den Wasserkocher aus glänzendem Edelstahl, ein paar offensichtlich handgetöpferte Keramikbecher und eine Packung Teebeutel. In dem Kessel war noch Wasser. Sie schaltete ihn einfach ein, und nach wenigen Sekunden kochte es bereits. Milch oder Zucker konnte sie nirgends entdecken, also goss sie nur das Wasser auf die Teebeutel und rührte eine Weile mit einem benutzten, verbogenen Löffel um, den sie neben dem Kocher gefunden hatte. Dann fischte sie die Teebeutel heraus, warf sie in den überquellenden Mülleimer und trug die Becher zum Schreibtisch. Nachdem sie eine Ecke für Pippas Becher freigeräumt hatte, nahm sie auf dem anderen Stuhl Platz und hielt ihren Tee in der Hand.
    »Danke.« Pippas raue Stimme klang schon wieder etwas kräftiger. Sie fasste den Keramikbecher vorsichtig am Griff und am Rand. »Sie müssen das Chaos hier entschuldigen. Ich war in letzter Zeit ein bisschen überfordert mit allem. Und jetzt das …« Wieder stiegen ihr die Tränen in die Augen, und sie schüttelte den Kopf.
    »Dann haben Sie Naz Malik also gekannt?«, fragte Gemma.
    »Natürlich habe ich Naz gekannt. Ich war mit Sandra schon vor ihrer Hochzeit befreundet. Nicht, dass Naz und ich uns je besonders nahegestanden hätten - ich glaube, Naz hat mir meinen Einfluss auf Sandra übelgenommen, und das galt auch umgekehrt,

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