Wenn Die Wahrheit Stirbt
oberflächliches Kapitalistenschwein genannt.« Sein Lächeln schwand. »Sie fehlt mir. Jeder Mensch braucht einen Freund, der ihm sagt, was er nicht hören will.« Einen Moment lang sah er sehr nachdenklich aus. »Obwohl sie bei all ihren hohen philosophischen Idealen doch auch eine sehr praktische Ader hatte - und sich nicht zu schade war, unter meinen Gästen zu wildern.«
»Zu wildern?«
»Das war ein Witz zwischen uns beiden. Sie nannte mich ihre ›Ein-Mann-PR-Abteilung‹. Wenn ich ihre Arbeiten im Club aufhängte, wollten die Mitglieder auch welche für sich. Auf die Weise hat sie so manchen Auftrag ergattert.«
»Soll das heißen, dass Sie für die Collagen nichts bezahlt haben?«, fragte Kincaid.
»Natürlich habe ich dafür bezahlt. Oder besser gesagt, der Verwaltungsrat hat sehr gut dafür bezahlt, wie auch für die anderen Kunstwerke, die ich vorgeschlagen habe. Alles sehr hübsch anzusehen, alles korrekt und steuerlich absetzbar.«
»Mir ist aufgefallen, dass Sie von Sandra in der Vergangenheit sprechen, Mr. Ritchie«, sagte Kincaid ruhig, ohne den Blick von seinem Gegenüber zu wenden.
Zum ersten Mal wirkte Ritchie ein wenig ungehalten. »Ich bin ja nicht weltfremd, Superintendent. Sandra war glücklich verheiratet, zumindest nach allem, was sie mir anvertraut hat. Sie liebte ihre Tochter. Sie war beruflich erfolgreich. Sie trank nicht, abgesehen von einem Glas Wein dann und wann, und sie nahm keine Drogen. In all den Jahren, die ich sie kannte, hat sie niemals das geringste Anzeichen von psychischer Labilität gezeigt.«
»Sie glauben, dass sie tot ist?«
»Ich hoffe es nicht. Aber ich halte es für die logischste Erklärung. Was ich nicht verstehe, ist, dass die Polizei nicht den geringsten Hinweis auf ihr Schicksal zutage fördern konnte. Und jetzt Naz -« Ritchie schüttelte den Kopf. »Was in aller Welt ist mit Naz passiert? Warum sollte jemand ihn umbringen? Er war ein netter Kerl, und er hatte die Hölle auf Erden durchgemacht.«
»Wissen Sie von irgendjemandem, der einen Groll gegen ihn hegte?«
»Ich habe ihn nicht gut genug gekannt, um in solche Dinge eingeweiht zu sein. Und Sandra hat mir gegenüber nie etwas erwähnt.«
»Hat Sandra mit Ihnen über ihre Familie gesprochen?«
»Nein. Das war ein Tabuthema.« Ritchie dachte einen Moment nach. »Der Eindruck, der sich mir aufdrängte, war, dass ihre Familie nichts von ihrer Arbeit hielt, aber wir haben das Thema ganz einfach vermieden. Es war uns beiden lieber so.« Er sah auf seine Uhr. »Hören Sie, im Speisesaal ist noch recht viel Betrieb, und ich muss ab und zu nach dem Rechten sehen. Wenn Sie keine weiteren Fragen haben -«
»Mr. Ritchie, haben Sie irgendeinen Verdacht, wer das Gerücht über Sie und Sandra in die Welt gesetzt haben könnte?«, fragte Kincaid im Aufstehen.
Ritchie seufzte. »Es könnte jemand vom Clubpersonal gewesen sein. Ich fange grundsätzlich nichts mit den Mädchen an,
Superintendent. Das führt nur zu Komplikationen, die schlecht fürs Geschäft sind. Aber gelegentlich wird die eine oder andere ein wenig zu anhänglich, und dann wird es … schwierig. Es gab da eine, die ich leider entlassen musste - Kylie hieß sie. Ich weiß nicht, wo sie jetzt ist.«
»Noch eine vermisste Frau?«, fragte Cullen.
»Sie wird nicht vermisst , Sergeant«, entgegnete Ritchie mit übertriebener Langmut. »Sie arbeitet nur nicht mehr hier. Fragen Sie Melanie, wenn Sie mögen. Die beiden haben eine Zeitlang zusammen gewohnt. Und jetzt -« Er stand auf und nötigte die beiden ebenfalls zum Hinausgehen. Als sie an der privaten Bar vorbeikamen, trat ein Mann aus dem Aufzug. Er warf einen Blick auf Kincaid, runzelte die Stirn und ging auf sie zu.
»Kennen wir uns nicht?«, fragte er und streckte die Hand aus. »Miles Alexander.«
Das Gesicht des Mannes kam Kincaid bekannt vor, und auch seine glatte, leicht speckige Physiognomie, die ihn an einen Seehund erinnerte. Der Vergleich half seiner Erinnerung auf die Sprünge. »Ich habe Sie im Royal London gesehen«, sagte Kincaid. Das war der Mann, der ihm auf dem Flur begegnet war, als er Dr. Kaleems Büro gesucht hatte, und der ein wenig gereizt auf Kincaids Frage nach dem Weg reagiert hatte.
»Ah ja, richtig. Ich bin dort als Anästhesist tätig.« Jetzt machte Alexander einen durchaus umgänglichen Eindruck.
»Miles ist auch einer von Sandras Kunden«, sagte Ritchie. »Miles, die Herrschaften sind von Scotland Yard.«
»Gibt es etwas Neues von Sandra?«, fragte
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