Wenn Die Wahrheit Stirbt
parat.«
»Und Sie haben keine andere Adresse oder Telefonnummer von ihr?«, fragte Kincaid.
»Nein.Wir waren nicht wirklich befreundet. Es war eine reine Zweck-WG. Und dann hat sie sich bei Lucas total lächerlich gemacht und uns alle damit blamiert. Dumme Kuh.«
Mit gutem Zureden hatten sie ihr noch die nicht mehr aktuelle Handynummer entlockt. Melanie hatte ihnen verraten, dass Kylie aus Essex stammte, und eine Beschreibung geliefert. »Mausgrau und verhuscht. Und ein bisschen pummelig. Ist mir schleierhaft, warum Lucas sie überhaupt eingestellt hat«, war ihr abschließender, vernichtender Kommentar gewesen.
Sie überquerten die Bishopsgate. An der Rolltreppe, die zur U-Bahn-Station Liverpool Street hinunterführte, blieb Kincaid stehen und drehte sich zu Cullen um. »Ach ja, übrigens, gibt es schon etwas Neues von Azads verschwundenem Neffen? Diese Häufung von vermissten Personen wird ja allmählich besorgniserregend.«
Gemma ging zurück zur Old Street, doch sie kam nicht so schnell voran wie auf dem Hinweg. Allmählich wünschte sie sich, sie hätte vernünftigere Schuhe angezogen. Angesichts der anhaltenden Hitze hatte sie sich am Morgen für Riemchensandalen entschieden, aber jetzt bezahlte sie dafür mit einer Blase.
Sie verlangsamte ihr Tempo noch weiter und versuchte den schmerzenden Fuß zu schonen, während sie über ihr Gespräch mit Roy Blakely nachdachte. Sie hatte ihm Janice Silvermans Nummer gegeben, und er hatte versprochen, sie anzurufen. Doch als sie ihn gefragt hatte, ob er auch vor dem Familiengericht aussagen würde, hatte er gezögert und erwidert: »Natürlich will ich nur das Beste für Charlotte … aber ich kenne die Familie schon fast mein ganzes Leben lang. Und ich habe ja nichts Besonderes zu sagen, außer dass Gail bei der Erziehung ihrer eigenen Kinder so ziemlich versagt hat - und das ist auch nur meine persönliche Meinung.«
»Also, dann sprechen Sie doch mal mit Mrs. Silverman. Das wäre immerhin ein Anfang«, hatte Gemma gesagt. Sie spürte, dass sie ihn im Moment nicht weiter bedrängen durfte, und so musste sie sich mit dem Erreichten zufriedengeben.
Aber jetzt hatte sie immerhin ein klareres Bild von den Ereignissen am Tag von Sandras Verschwinden, und sie war mehr denn je davon überzeugt, dass Sandra nicht freiwillig ihre Familie verlassen hatte. Außerdem war sie neugierig auf diese Pippa Nightingale, die Roy erwähnt hatte.
Sie blieb stehen und konsultierte ihren Straßenatlas. Die Rivington Street verlief parallel zur Old Street, und von dort, wo sie stand, war es nur ein Katzensprung. Sie würde kurz in der Dienststelle Bescheid sagen, und dann könnte sie in Pippa Nightingales Galerie vorbeischauen und ein paar Worte mit ihr wechseln.
Da sie die genaue Adresse nicht kannte, fing sie am unteren Ende der Straße an und hielt Ausschau nach dem Namen. Die Rivington Street strahlte jene Atmosphäre von leicht angeschmuddelter, aber trendiger Betriebsamkeit aus, die Gemma mehr und mehr mit dem East End verband. Sie kam an Clubs und Boutiquen vorbei, an einer medizinischen Beratungsstelle, an Büros und Galerien. Zu viele Galerien - schon hatte sie das
obere Ende der Straße erreicht, die von dem einladend aussehenden Rivington Grill abgeschlossen wurde, ohne dass sie gefunden hätte, was sie suchte. Also machte sie wieder kehrt und suchte noch gründlicher. Ungefähr in der Mitte der Straße wurde sie durch den Anblick eines sehr dezenten Schildes mit der Aufschrift Nightingale Gallery belohnt, das an einem Haus mit schlichter Fassade neben der unauffällig aussehenden Eingangstür hing.
Gemma besah sich das Haus etwas genauer und drückte dann auf die Klingel. Als der Summer ertönte, trat sie ein und fand sich in einem kleinen Vorraum mit einer Treppe. Der einzige Weg führte von hier nach oben.
Im Hinaufgehen sah sie, dass die Wände des Treppenhauses mit exquisiten Miniaturen geschmückt waren. Es waren abstrakte Werke mit übereinandergelagerten Schichten von Linien und Farben, die ein solches Gefühl von Tiefe vermittelten, dass ihr beim Anschauen geradezu schwindlig wurde. Aber was ihr wirklich den Atem verschlug, waren die handgeschriebenen Preise auf den Kärtchen, die neben den Bildern befestigt waren. Wunderschön, aber definitiv jenseits dessen, was sie sich leisten konnte.
Als sie den ersten Stock erreichte, öffnete sich das Treppenhaus zu einer langen, schmalen Galerie. Die Wände waren in kaltem Weiß gestrichen, der Boden mit
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