Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
merkwürdig vertraut vorkamen. Alle Tische vor den kleinen Restaurants und Bars waren besetzt, die Läden noch geöffnet, und die Menschen flanierten durch die Nacht. Es war eine Atmosphäre, die das Gefühl vermittelte, dass für alles im Leben noch unendlich viel Zeit vorhanden war.
Als Roswitha am nächsten Morgen in die Küche kam, stand Doc Snyder bereits am Herd und briet Rührei mit Schinken. Als sie ihn sah, zog sie schnell ihre Augenklappe aus der Hosentasche.
»Guten Morgen, Captain Cook«, sagte Doc Snyder. Er holte zwei Teller aus dem Regal und teilte das Rührei auf. »Toast?« Sie saßen am Tisch und frühstückten. »Wir haben dich heute Mittagfür das Abwaschen eingeteilt«, sagte Doc Snyder. »Danach ist Kleiderausgabe.«
»Wer bezahlt das eigentlich alles hier?«, fragte Roswitha.
»Die Nachbarn!«
»Welche Nachbarn?«
»Na, die Leute aus der Gegend. Die spenden Geld, bringen Lebensmittel und Klamotten oder kochen hier.«
»Warum machen die das?«
»Wer soll es denn sonst machen?«
Doc Snyder, Roswitha und Katie, eine Nachbarin, hatten Küchendienst. Die Nachbarin hatte einen Korb voller Lebensmittel mitgebracht, zwei Hühner, Gemüse, drei Kilogramm Hackfleisch. Roswitha formte kleine Klopse, briet sie in einer großen Pfanne und tat das klein geschnittene Gemüse dazu. Die Nachbarin kochte eine Hühnersuppe, und Doc Snyder knetete Kuchenteig und schnitt Äpfel in Scheiben. Roswitha begann schon zu zweifeln, ob sie wirklich in Amerika war, als die Zarin drei große Tüten Instantkartoffelbrei brachte. Wenigstens damit war das Klischee bedient. Punkt zwölf war das Essen fertig
Es gab eine Vorsuppe, ein Hauptgericht und ein Dessert. »Ganz schön üppig!«, sagte Roswitha. Und Doc Snyder fragte erstaunt: »Warum nicht?« Und als er Roswithas Zögern bemerkte: »Glaubst du, Obdachlosen steht das nicht zu?«
Die Nachbarin gab das Essen aus, Doc Snyder räumte die Tische ab, und Roswitha wusch das Geschirr in einem großen Spülbecken.
Als Kind hatte sie das Abwaschen gehasst. Abwaschen nach dem Frühstück, Abwaschen nach dem Mittagessen, Abwaschen nachdem Kaffeetrinken, Abwaschen nach dem Abendbrot. Die Mutter duldete kein schmutziges Geschirr in ihrer Küche. Dabei hätte sie nur die Schublade des Abwaschtischs aufziehen und das Geschirr in eine der beiden Schüsseln stellen können. Schublade zu, und alles wäre erledigt gewesen. Doch der Gedanke, dass für einige Stunden in der Tiefe ihres Abwaschtischs schmutziges Geschirr schlummerte, hätte die Mutter in den Wahnsinn getrieben.
Roswitha und Doc Snyder arbeiteten im Akkord. Sie waren wie Kinder, die sich vorgenommen hatten, unbedingt Erster zu werden. Kaum war ein Teller leer gegessen, stand er schon wieder sauber an der Essenausgabe. Als der letzte Gast gegangen war, mussten sie nur noch die Tische abwischen. Jetzt hatten sie Zeit, selbst zu essen. Roswitha nahm einen von ihr selbst abgewaschenen Teller und ließ sich Suppe geben. Sie aß genussvoll. Als sie fertig waren mit dem Essen, nahm Doc Snyder ein Tablett und stellte eine Tasse Suppe und einen Teller mit Fleischbällchen darauf.
»Na, für den kleinen Hunger zwischendurch?«, fragte Roswitha.
»Klar, das stelle ich in meine Vorratskammer!«, sagte Doc Snyder. »Komm mit!«
Irritiert folgte sie ihm über verwinkelte Gänge in den dritten Stock. Die Tür lag versteckt hinter einem Mauervorsprung. Doc Snyder drückte Roswitha das Tablett in die Hand, klopfte und öffnete die Tür. »Er heißt Leonard und ist quasi der Alterspräsident«, flüsterte Doc Snyder, drehte sich um und ging.
Unsicher stand Roswitha auf der Türschwelle.
»Kommens rein, gnä’ Frau, nehmens Platz!«
Im Bett, gestützt von zwei blütenweißen Kissen, lag ein Mann, dessen Hautfarbe sich kaum vom Kissenbezug unterschied. Seinkahler Schädel wirkte wie Wachs, und auf dem weißen Deckbett lagen bleiche Hände. Im völligen Kontrast dazu stand das geblümte Hemd aus dem sein langer dünner Hals ragte. Geballte Flower Power, die von einem Plakat komplettiert wurde, das über dem Bett hing: Janis mit Federboa.
Der Alterspräsident richtete sich auf. An seinen dünnen Armen zeichnete sich jede Sehne ab. Er nickte mit seiner spitzen Nase in Richtung Stuhl, als wolle er von dem Sitz Körner aufpicken, ein Straußenvogel im Hippiehemd.
Gehorsam setzte sich Roswitha. Noch immer hielt sie das Tablett in der Hand. Die Nase des Straußenvogels deutete ihr an, dass sie es auf den Boden stellen
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