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Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Titel: Wenn die Wale an Land gehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Aehnlich
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einigen Jahren Verspätung und am falschen Ort, ein Hippiefestival. Und als das »Ooo who« von »Sympathy for the devil« einsetzte, sangen viele im Saal mit. Gemeinsam riefen sie voller Inbrunst den Teufel herbei. Ausgenommen die Abonnenten in den ersten Reihen. Eine ältere Frau drehte sich empört um und sagte: »Es reicht, wenn die vorn auf der Bühne so einen Krach machen!« Ihre Stimme ging unter im Dröhnen der Harley-Motoren. Die »Hell’s Angels« betraten die Bühne. Am Ende der Aufführung gab es zwei Tote, den erstochenen Hunter und die »kleine Esther«, die, willenlos und von bösen Mächten verführt, durch Drogen starb. Esthers Freundin Beverley gehörte der Abschlussmonolog, der in der Frage mündete: »Hat die Natur in uns ihr Ziel verfehlt?«
    »Das wollen wir doch hoffen«, rief Mick in den Zuschauerraum.
    Auf der nächtlichen Heimfahrt, die fünf Stunden dauerte, weil der Zug in weiten Bögen durch die Republik fuhr und an jedem verfügbaren Bahnhof hielt, entwickelte Mick Pläne für eine eigene Rockoper. Im Morgengrauen saßen sie auf einem verlassenenBahnsteig in Bitterfeld, warteten auf den Anschlusszug und tranken den klebrigen Rest aus einer mitgebrachten Flasche »Kreuz des Südens«. In der Luft lag der für diese Gegend typische Geruch nach Rauch und faulen Eiern. Die ersten Strahlen der Morgensonne quälten sich durch die Dunstglocke und gaben dem Himmel einen rötlichen Schein.
    »Fast wie in Woodstock!«, sagte Mick, und Roswitha wusste nicht, ob er damit seinen Plan für die Rockoper oder Bitterfeld meinte.
    Er hatte bei seiner Idee außer Acht gelassen, dass niemand von ihnen singen, tanzen oder ein Instrument spielen konnte, ganz abgesehen von der schauspielerischen Begabung.
    Doch der Plan von Bitterfeld hatte Bestand. Auch wenn der Begriff »Oper« eine gewisse Opulenz versprach und die Vorsilbe »Rock« eine Band voraussetzte, war Mick nicht davon abzubringen gewesen. Es gab eine einzige Gitarre und nur vier Hauptrollen. Niemand von den vielen selbst ernannten Freunden, die ständig um Micks Zuneigung buhlten, war bereit gewesen, eine größere Rolle im Stück zu übernehmen. Zu massiv war die Angst, sich eine Rüge der Hochschulleitung oder gar eine Exmatrikulation einzuhandeln. Dabei hätte man das Stück gutwillig als sozialistisches Arbeitertheater durchgehen lassen können.
    Dieses Mal spielten sie nicht in FDJ-Blusen, sondern in Herrenunterhemden, auf die Mick ein großes »P« gemalt hatte. »P wie Praktikant«. So hieß auch das Stück. Es zeichnete den Tagesablauf eines Praktikanten vom Weckerklingeln bis zum Schlafengehen nach und war die realistische Vision, wie es ihnen nach dem Studium ergehen würde. Der Refrain des Titelsongs gab die Richtung vor. »P wie Praktikant / nichts ist mehr riskant / Verstandbeim Pförtner abzugeben / auf ins Schreibtischland!«. Frau Pulvers Schauspielerfreund, der einzige Profi im Ensemble, spielte E-Gitarre. Satte Riffs, die »das werktätige Volk«, Mick, Zappa, Frau Pulver und Roswitha, am frühen Morgen aus dem Bett, hin zur Straßenbahnhaltestelle trieben.
    »Straßenbahn früh um sechs / Straßenbahn fünf nach sechs / Straßenbahn zehn nach sechs / Und noch halb im Bett«, sangen sie, über die Bühne hetzend, im Chor. Und dann musste Roswitha vortreten und allein und möglichst im Takt weitersingen, während der Chor, auf der Stelle laufend, den Refrain ständig vor sich hin murmelte. Mick hatte, um es Roswitha leichter zu machen, Rhythmus und Text so angepasst, dass es eher ein Sprechgesang war.
    »Du stehst auf / rennst aus dem Haus / der Magen ist leer, der Kopf noch viel mehr / die Straße entlang / fühlst dich wie krank / du gehörst jetzt dazu / eine von vielen / mit diesen Zielen / die du vergisst / niemals vermisst / du begibst dich mit Hast / in deinen Knast / den V-E-B / das Wort tut schon weh!«.
    Von heute aus betrachtet, hätte man es als Rap bezeichnen können. Vielleicht hatte Roswithas Unvermögen, längere melodische Bögen zu singen, Mick zum Erfinder des ostdeutschen Rap gemacht. Die Musik der anderen Titel war geklaut. Mick hatte die Soundtracks benutzt und neue Texte geschrieben, zum Beispiel zu Neil Youngs »Helpless«. Sie saßen, auf der Bühne, die Füße in Ketten gelegt, in einer imaginären Werkhalle und sangen »Hilflos, Hilflos«, während sie in verschiedenen Arbeitsschritten einen Karton zusammenfalteten. War er fertig, demontierte ihn der letzte Arbeiter und brachte ihn wieder an den

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