Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
Ausgangspunkt zurück, wo der Karton mit den bereits bekannten Arbeitsschritten erneut zusammengefaltet wurde. Ein Perpetuummobile der sozialistischen Produktion. Alle waren beschäftigt, aber es kam nichts dabei heraus.
»Guten Morgen Büroklammer / Guten Morgen Bleistift / Guten Morgen Papier!« Frau Pulver war die Produktionsleiterin, die das Betriebsergebnis in ein großes Buch schrieb.
Micks Aufführung war eine Rockoper für Arme, eine Mischung aus »Ich wär so gern in Woodstock gewesen«, Arbeitertheater und merkwürdigen Einfällen. Am vorderen Bühnenrand hatte er alte Kuscheltiere platziert, deren Augen mit schwarz gefärbten Stofffetzen verbunden waren. Auch Roswithas einäugiger Hase, den sie über die Jahre ihrer Kindheit gerettet hatte, musste auf diese Weise an der Aufführung teilnehmen. Auf einer Leinwand neben der Bühne wurden im kurzen Wechsel, als Endlosschleife, Roswithas Tagebaubilder gezeigt. Aus dem Manko, dass sie einen Negativfilm verwendet hatte, der sich normalerweise nicht zu einer Diavorführung eignete, wurde Kunst. Die von schwarz-weiß in weiß-schwarz gewandelte Landschaft hatte etwas Gespenstisches. Bergleute mit rabenschwarzen Gesichtern lächelten mit weißen Mündern in die Kamera.
Roswitha hatte lange mit sich gekämpft, ob sie Wladimir einladen sollte. Einerseits hatte sie es ihm versprochen, andererseits schämte sie sich für ihren mittelmäßigen Gesang. Vor allem ihr Auftritt als verführerischer Fernseher war ihr peinlich. Mick hatte darauf bestanden, dass sie für diese Rolle einen schwarzen Unterrock, High Heels und einen großen rosa Hut trug.
Während Mick, Zappa und Frau Pulver erschöpft vom Arbeitsalltag auf einem improvisierten Sofa lagen, war es Roswithas Aufgabe, die müden Werktätigen zu umgarnen. »Ich bin der Fernseher, dein bester Freund, der sich nach acht mit dir vereint,ich bin was du zu Abend isst, ich bin dein Abgott und dein Mist.« Respektlos hatte Mick einen Song von Ingrid Caven umgeschrieben. Noch schwieriger als der Gesang war das Laufen in High Heels. Die Schuhe der Zappamutter waren Roswitha zwei Nummern zu groß. Mit festgekrallten Zehen versuchte sie die Schuhe am Fuß zu halten und elegant um die inzwischen eingeschlafenen Werktätigen herumzuschleichen.
Am Schluss sangen sie gemeinsam, obwohl es für Stones-Fans ein großes Zugeständnis war, »Let it be«. Aber der Text war zu verlockend gewesen. »There will be an answer: Let it be!« Es war eine eindeutige Botschaft. Gern hätte Mick dabei die Gitarre von Frau Pulvers Schauspielergeliebten auf der Bühne angebrannt oder wenigstens zerschlagen. Aber der verteidigte sein Hab und Gut mit allen Mitteln und drohte Mick mit Mord, wenn er die Gitarre auch nur anfassen würde.
Doch ohne Schlussaktion konnte das Stück für Mick nicht enden. Das unerwartete Opfer seiner Fantasie wurde Roswithas einäugiger Hase. Plötzlich zog Mick vor versammeltem Publikum eine Schere aus der Tasche und schnitt dem armen Hasen zuerst die Ohren und dann, nach Abnehmen der schwarzen Binde, das verbliebene Auge ab. »Let it be!«
Die Hochschulleitung, an die diese Botschaft gerichtet war, hatte es vorgezogen, der Veranstaltung fernzubleiben. Das Publikum im Hörsaal nutzte die Abwesenheit und traute sich, zu klatschen und lauthals Bravo zu rufen.
Auch Wladimir war begeistert.
»Das freut mich aber, dass es deinem Lenin gefallen hat!«, sagte Mick.
Obwohl sie wusste, dass es Mick nicht freundlich stimmte, hatte sie den Schichtleiter mit zur Nachfeier in den Studentenklubgenommen. Sollte sie ihn auf der Straße stehen lassen, bis sein Bus fuhr? In seiner ruhigen Art hatte Wladimir gegen die anderen ungeheuer erwachsen gewirkt.
Als der Beifall einsetzte, schrak Roswitha zusammen.
Es dauerte einige Sekunden, bis sie begriff, dass sie in einem Konzert in Soho und nicht bei der Aufführung ihrer Rockoper saß.
Der Cowboy brachte Roswitha einen Becher Wein. »Na, wie fandest du uns Individualisten?«
Sie stellten sich zu der Sängerin, die Roswitha mit einem deutlich hörbaren Schweizer Akzent begrüßte. Eine Mongolin, die in Zürich lebte und in New York auftrat. Was war daran merkwürdig? Sie redeten über Musik, tranken, schwiegen, und Roswitha fühlte sich plötzlich mit allen im Raum auf unsichtbare Weise verbunden. Als sie sich nach zwei Stunden verabschiedete, spürte sie eine tiefe Zufriedenheit. Der Cowboy brachte sie zurück zum »Shelter Park House«. Sie liefen durch Straßen, die ihr
Weitere Kostenlose Bücher