Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
genügte ein Augenblick, und schon ging man nach rechts statt nach links. Für diese Erkenntnis hätte sie allerdings nicht bis New York fahren müssen.
Zu Cello und Stimme gesellte sich ein neuer Begleiter. Unbemerkt hatte sich der Cowboy an den Flügel gesetzt. Er trug eine schwarze Hose und ein weißes Hemd mit Fliege. Es war beruhigend, dass er wenigstens noch seine Stiefel anhatte.
Jeder Musiker sang oder spielte für sich. Manchmal blieben dieTöne einzeln im Raum und funkelten im Dunkel, manchmal aber verbanden sie sich und fügten sich aneinander. Ein feines Gewebe, auf das der banale Begriff Klangteppich zutraf. Es war ein fliegender Teppich. Roswitha konnte aufsteigen und sich davontragen lassen. Sie merkte, wie sie zu lächeln begann. Das war das Wunder der Musik. Neben allem Glück empfand sie ein bisschen Neid, nur als Zuschauer daran teilhaben zu können.
Den Wunsch, ein Instrument zu spielen, hatte sie sich nie erfüllt. Eine kurze Karriere als Puppenklavierspielerin war wegen der Nachbarn abrupt beendet worden. Das Klavier war ein Weihnachtsgeschenk gewesen, ein roter Plastekasten, der lediglich über zehn Tasten verfügte, die allesamt scheppernde Töne von sich gaben. Doch egal, welche Tastenkombination Roswitha spielte, in ihren Ohren hatten alle Abfolgen wunderschön geklungen. Die Babypuppe, der Teddy und der einäugige Hase waren das Publikum gewesen, stumme Bewunderer, die zusahen, wie sich Roswitha in einen Rausch spielte. Schon damals hatte sie gefühlt, was sie jetzt in Worte fassen konnte: Musik war eine Kunst, die man gleichzeitig für sich und für andere machen konnte. Doch sie wusste spätestens nach einem missglückten Gastspiel im Schulchor, dass sie für immer diejenige bleiben würde, die vor der Bühne stand.
Einzig Mick hatte sich nicht damit abfinden wollen und Roswitha dazu bestimmt, die Hauptrolle seiner Rockoper zu spielen. Sie hatte sich vehement dagegen gewehrt, doch wie so oft, hatte er es geschafft und sie mit seinen Überredungskünsten zum Nachgeben gebracht. Doch Wille allein bescherte ihr kein Talent, das musste auch Mick einsehen, und so engagierte er Frau Pulvers Schauspielergeliebten als Gesangslehrer für Roswitha. »Heutesingst du schon ein bisschen richtiger«, hatte der nach der dritten Probe gesagt.
Sie war wahnsinnig gewesen, dass sie sich darauf eingelassen hatte. Überhaupt war das ganze Projekt ein Akt des Größenwahns. Eine fixe Idee, von der sich Mick nicht abbringen ließ. Der Einfall war ihm während einer Theateraufführung gekommen. »Der fiktive Report über ein amerikanisches Popfestival« lief an mehreren Bühnen im Land.
Grundlage war eine Erzählung des ungarischen Schriftstellers Tibor Déry, der mit wabernden Metaphern den Auftritt der Rolling Stones beim Popfestival in Altamont beschrieb. Der Roman hatte bereits kurz nach Erscheinen Kultstatus erlangt, da er als einziges Buch im Land ein Bild von Mick Jagger auf dem Einband zeigte. In einem »tragischen Musical« sollte ihnen auch optisch vorgeführt werden, wie schädlich »Sex, Drugs & Rock ’n’ Roll« für ihre Entwicklung zur sozialistischen Persönlichkeit waren.
Sie fuhren mit dem Zug nach Berlin, um die Belehrung in der »Volksbühne« entgegenzunehmen. Nur mit Mühe bekamen sie nach langem Anstehen zwei zurückgegebene Karten. Die Vorstellung war komplett ausverkauft, denn es hatte sich herumgesprochen, dass während der Aufführung Stones-Titel gespielt wurden.
Missbilligend sahen die Abonnenten in den ersten Reihen auf die Schar der unordentlich gekleideten Jugendlichen, die plötzlich den Saal füllten.
Es wurde dunkel. Zu den Klängen von Pink Floyds »Shine on you crazy Diamond« ging auf der Bühne die Sonne auf. Roswitha und Mick hätten es nicht zu hoffen gewagt: Die Bretter, die dieWelt bedeuteten, gehörten den Hippies. Begleitet von E-Gitarren sangen, tanzten und liebten sie in aller Öffentlichkeit. »Wie in Woodstock«, sagte Mick. Was machte es, dass Hunter in Altamont erstochen worden war und die Stones nicht in Woodstock aufgetreten waren. In dem Stück verschmolz ohnehin der Regen von Woodstock mit dem Mord von Altamont. Nur in einem war sich der fünfundsiebzigjährige Déry sicher: Rockmusik machte die Menschen willenlos und drogensüchtig, und die Suche nach dem »Sein« wurde mit dem Tod beantwortet. Das Publikum dagegen war sehr lebendig und wenig deprimiert. Auch die Schauspieler hatten sichtbar Freude am Spiel. Sie alle feierten, wenn auch mit
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