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Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Titel: Wenn die Wale an Land gehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Aehnlich
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sollte.
    »Michael hat oft hier gesessen«, sagte der Straußenvogel. »Es ist schön, dass du da bist.«
    Schon wieder! Warum freuten sich Menschen, die sie überhaupt nicht kannte, dass sie gekommen war?
    Roswitha setzte sich auf den Stuhl. Auf einem kleinen Tisch neben dem Bett stand ein gerahmtes Foto: die Königin und der Straußenvogel. Sie erkannte ihn an seiner Nase und die Königin an ihren Augen. Ansonsten zeigte das Bild einen kräftigen jungen Mann mit wildem Bart und eine stolze junge Frau mit langen lockigen Haaren. Beide trugen verwaschene Bluejeans und T-Shirts, auf die mit Farbe ein Peace-Zeichen gemalt war.
    »Meine Janis«, sagte der Straußenvogel und lachte heiser. »Die andere haben wir verpasst.« Der Straußenvogel ließ sich nach hinten in die Kissen fallen. »Wir standen im Stau auf dem Weg nach Woodstock. Und dann flog ein Hubschrauber über uns hinweg. Jemand rief aus seinem Auto heraus: ›Darin sitzt bestimmt Janis!‹«
    Mick hätte sich umgebracht, dachte Roswitha.
    Als hätte er ihre Gedanken erraten, sagte der Straußenvogel: »Dein Freund hat geweint, als ich ihm die Geschichte erzählt habe.«
    »Es war ihr schlechtester Auftritt«, sagte Roswitha, um den Straußenvogel zu trösten.
    Doch der schüttelte nur den Kopf. Sie schwiegen eine Zeit lang, und Roswitha hatte Angst, dass sie ihn jetzt verärgert hatte.
    »Du suchst ihn?«, fragte der Straußenvogel.
    Roswitha nickte.
    »Er ist ein besonderer Mensch. Wir haben uns oft unterhalten. Mich haben die Geschichten über euer Land interessiert. Ich glaube, er hat immer darunter gelitten, dass er nirgendwo richtig hingehörte. Das Leben kann nicht immer nur im Kopf stattfinden.«
    »Wo ist er jetzt?«
    »Er war im Krankenhaus. Doch dort konnten sie ihm nur bedingt helfen, die üblichen Probleme mit der Versicherung. Da hat ihn eine Krankenschwester mit nach Hause genommen.«
    »Einfach so?«
    »Er brauchte Hilfe!«
    »Na, ich meine, so als Frau, sie kannte ihn doch gar nicht?«
    »Stört dich das?«
    »Nein, nein.«
    »Schade! Er hat gesagt, dass er immer noch auf eine Antwort wartet.«
    »Von mir?«
    Es war ein Montag gewesen, ein ganz normaler Morgen. Sie hatten beschlossen, die erste Prüfungskonsultation ausfallen zu lassen. Janis sang, Mick kochte Tee, und Roswitha legte einen neuenFilm in ihren Fotoapparat ein, als es einen ohrenbetäubenden Lärm gab. Aus dem geöffneten Treppenfenster des Vorderhauses zog eine Staubwolke hinaus auf den Hof. Wie gebannt standen Mick und Roswitha am Fenster und sahen zu, wie sich der Staub langsam auf den Boden senkte. Dann hörten sie die Hilferufe und rannten ins Vorderhaus. Es war unfassbar. Überall lagen Steine, gesplitterte Holzbalken, Putzstücke. Die Wand, die den Hausflur vom Treppenhaus trennte, war eingefallen und die Treppe, die vom Erdgeschoss in die erste Etage führte, nach unten gesackt. Auf dem jetzt frei schwebenden Treppenpodest in der ersten Etage stand eine Frau, die schützend die Arme um einen kleinen Jungen gelegt hatte. Mick rannte auf die Straße, um Hilfe zu holen, während Roswitha aus der Ferne versuchte, die Frau zu beruhigen, die weinend immer wieder behauptete, dass »alles ihre Schuld wäre«. Erst nach und nach begriff Roswitha, worin diese »Schuld« bestand.
    Die Frau hatte ihren fünfjährigen Sohn wie an jedem Morgen nach dem Aufstehen zur Toilette geschickt. Und wie an jedem Morgen hatte er gejammert, denn die Wohnung hatte kein Bad und die Toilette war »halbe Treppe«. Der Junge weinte, weil er sich vor dem kalten Treppenhaus fürchtete. »Und dann«, sagte die Mutter schluchzend, »habe ich mit ihm geschimpft, ihn mit Gewalt aus der Tür geschoben und die Tür zugeschlagen!«
    Roswitha sah die abgesplitterten Enden der Balken aus dem Treppenpodest spießen. Stroh quoll aus dem Zwischenraum zwischen Dielen und Deckenputz. Eine zugeschlagene Tür als Auslöser für ein Inferno? Roswitha ahnte damals, was sie heute wusste: Der Sozialismus war nicht abgeschafft worden, sondern einfach in sich zusammengefallen.
    An jenem Montag hatte Roswitha unbewusst einen dieserMomente festgehalten. Es war Zufall, dass sie beim Hinausrennen ihren Fotoapparat in der Hand behalten hatte. Mehr aus Gewohnheit begann Roswitha zu fotografieren. Wie im Rausch zog sie den Hebel zurück und fixierte das Motiv: zerborstene Treppenstufen, Bruchstücke des Geländers, ein Wandstück, an dem noch die Namensliste für die »Große Hausordnung« klebte. Wieder und wieder drückte sie auf

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