Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
türkischen Grenze. Auf der Karte soll alles ganz nah gewesen sein, aber du weißt ja, von den Grenzgebieten gab’s nie Karten, die stimmten. Da standen schon die Warnschilder, sogar auf Deutsch. Und dann ist er über einen schmalen Pfad in eine Bucht zum Meer geklettert und wollte an den Felsen entlangschwimmen. Doch das Patrouillenboot hat schon auf ihn gewartet. Die haben dort sowieso die ganze Nacht den Strand abgeleuchtet. Anscheinend hat ihn auch jemand aus dem Ort verpfiffen. Von der Stasi gab’s Kopfgeld für jeden gefangenen Zoni, bis zu 2000 Mark. Das war viel für einen bulgarischen Bauern.«
»Du isst doch gar nicht? Guck mal, hier sind Smothered Turkey Wings, Honey Chicken und Glaced Oxtail!«
»Was ist Oxtail?«
»Das ist Ochsenschwanz. Das esse ich am liebsten. Man brät die Stücke in einer Pfanne an, schmort Gemüse und lässt einen dreiviertel Liter Rotwein so einkochen, dass er eine Tasse Sud ergibt. Darin legt man dann das Fleisch ein.«
»Schmeckt gut! Aber was ist dann passiert?«
»Er ist ins Gefängnis gekommen. Erst in Burgas, dann in Sofia und nach der Rückführung in die DDR in die Berliner Normannenstraße. Von dort ging’s dann in den Knast nach Karl-Marx-Stadt. Und nach ein paar Monaten ist er freigekauft worden und kam nach Gießen. Wusstest du nichts davon?«
»Ich habe nur geahnt, dass er fliehen wollte. Und dann gab es dieses Gerücht, dass er von Bulgarien in die Türkei geschwommen ist.«
»Und das hast du geglaubt?«
»Ich habe nie daran gezweifelt, dass er es geschafft hat.«
»Du hast ihm ja eine Menge zugetraut.«
»Wieso nicht?«
»Hier sind noch Lima Beans, Strug Beans und Okra! Das ist ein Gemüse aus Afrika. Sieht aus wie schmale Paprika und schmeckt wie grüne Bohnen.«
»Hattest du auch einen Fluchtversuch?«
»Nein, nur einen normalen Ausreiseantrag. Was man so normal nennt. Die haben mich drei Jahre lang warten lassen.«
»Warum wolltest du weg?«
Malenga blickte erstaunt auf: »Sieh mich an! Ich hatte die falsche Hautfarbe.«
»Hoch die internationale Solidarität!«, sagte Roswitha.
Malenga lachte so laut, dass sich alle im Restaurant umsahen.
»Hoch die internationale Solidarität!« war eine der Parolen gewesen, mit denen Roswitha aufgewachsen war. Der Wahrheitsgehalt ließ sich schwer nachzuprüfen, da in der Kleinstadt, in der Roswitha damals lebte, keine Ausländer wohnten. Nur am Ortsrand gab es eine Siedlung für die Familien der stationierten Sowjetsoldaten. Doch die hatten ihre eigenen Schulen, eigene Geschäfteund ließen sich nur selten in der Stadt blicken. Nur manchmal fuhr ein Lkw-Konvoi durch die engen Straßen, dann klirrten die Fenster, und Roswithas Mutter hatte Angst um ihre frisch geputzten Scheiben und sagte: »Wenn die so weitermachen, fällt mir noch der Kitt aus den Fenstern.«
Ansonsten war die Stadt ausländerfrei, was allerdings die Lehrer in der Schule nicht davon abhielt, die Völkerfreundschaft zu beschwören. Aber mit wem sollte sie sich während ihrer Schulzeit verbrüdern? Die einzige Schwarze, die Roswitha als Kind kannte, war Angela Davis. »Freiheit für Angela« stand an der Wandzeitung, und wie alle anderen Schüler aus ihrer Klasse, schrieb Roswitha in Schönschrift einen Brief an den amerikanischen Präsidenten und forderte Angelas Freilassung. Als Dank für die erfolgreiche Unterstützung kam die freigekämpfte Angela Davis in die DDR und wurde Ehrenbürgerin von Magdeburg. Warum gerade Magdeburg, wussten auch die Lehrer in der Schule nicht zu deuten, aber vielleicht war keine andere Stadt mehr frei gewesen.
»Ich habe mal Angela Davis auf der Tribüne winken sehen«, sagte Roswitha.
»Ja, winkend auf Tribünen waren euch die Ausländer am liebsten!« Malengas Ton wurde bitter. »Weißt du, wann ich beschlossen habe auszuwandern? Mit neun Jahren. Da war ich in der dritten Klasse. Wir mussten ein Gedicht lernen, und ich sollte zum Aufsagen nach vorn kommen. Als ich fast an der Tafel war, sah mich die Lehrerin so komisch an und sagte: Setz dich wieder hin! Ich wusste überhaupt nicht, was ich falsch gemacht hatte, und blieb stehen. Und dann sagte sie: ›Komm wieder, wenn du dich gewaschen und gekämmt hast!‹ Die ganze Klasse hat gelacht unddie Lehrerin auch, als hätte sie einen besonders guten Witz gemacht. Und auf dem Schulhof haben sie mir danach immer hinterhergerufen: Geh dich waschen! Neger, Neger, Schornsteinfeger.«
»Gut«, sagte Roswitha, »Neger haben wir alle gesagt, ohne darüber
Weitere Kostenlose Bücher