Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
Galgen« von Anna Seghers. Gegen die Seghers konnte nichts eingewendet werden, denn immerhin war sie über fünfundzwanzig Jahre lang Vorsitzende des Schriftstellerverbandes der DDR gewesen. Vielen galt die Seghers als eine von den »Roten«, was aber nur der halben Wahrheit entsprach, da Teile ihres Werks nicht verbreitet wurden, was zu einem tragischen Verkennen führte.
»Der Auftrag« spielte in Frankreich zu Zeiten der Machtübernahme durch Napoleon und hätte als historisches Stück abgetan werden können. Doch sie hatten gelernt, die Dinge zu übertragen.»Völker hört die Signale« galt auch im Theater. Bei den meisten Stücken genügten Nuancen, um das Publikum in Aufruhr zu versetzen. Schon allein Worte wie »verlorene Revolution«, »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« oder »Abgrund« brachten die Zuschauer dazu, den Atem anzuhalten und zu applaudieren.
Doch Müller hielt sich nicht mit versteckten Anspielungen auf. Sein Stück war hochbrisant, denn es ging um Verrat: Verrat an der Sache, Verrat an den Freunden, Verrat an sich selbst.
Drei Abgesandte des französischen Konvents, Galloudec, Sasportas und Debuisson, waren nach Jamaika geschickt worden, um einen Sklavenaufstand zu organisieren. Doch noch während ihrer Reise übernahm Napoleon die Macht und erklärte die Revolution für beendet. Pech gehabt. Der Kampf war abgesagt, wie ein Fußballspiel im Winter wegen unbespielbarem Boden. Übrig blieben drei Männer in einem fremden Land mit einem »Auftrag« ohne Auftraggeber.
Die Inszenierung machte die Zuschauer zu Komplizen. Sie saßen während der Vorstellung mitten auf der Bühne auf Holztribünen. Und da die Vorstellungen ständig ausverkauft waren, durften sie sich, als weit angereiste Gäste, auf die Treppenstufen im Gang setzen. Roswitha hockte mit angezogenen Knien auf der dritten Stufe. Fast wäre ihr diese Nähe zum Verhängnis geworden, denn in höchster Erregung über den verlorenen Auftrag rannten die Schauspieler auf der kleinen Bühne hin und her und stürmten auch auf die Treppe zu, und hätte ihr nicht die Schreckstarre jegliche Kraft genommen, wäre Roswitha von der Bühne geflüchtet. Gemeinsam mit den Schauspielern befand sie sich in Aufruhr, teilte Wut, Empörung, Zweifel, Hilflosigkeit. Was war eine Freundschaft wert im Angesicht des Todes?
Die drei Freunde verabschiedeten sich mit der Gewissheit, dass sie sich nie wiedersehen würden. Direkt vor Roswitha lagen sich die Männer in den Armen und weinten. Sie sah die Tränen, von denen sie noch heute schwor, dass sie echt gewesen waren, spürte die Verzweiflung. Jeder konnte nur tun, wozu ihm der Mut gegeben war.
Im Schatten des Todes setzten Sasportas und Galloudec den Auftrag fort, während sich Debuisson zum Rückzug ins Privatleben entschied. »In Zeiten des Verrats sind Landschaften schön.« Am Ende wurde Sasportas gehenkt, und Galloudec starb auf der Flucht.
»Die Revolution ist die Maske des Todes. Der Tod ist die Maske der Revolution.« Die Müller-Sätze stanzten sich ins Gedächtnis.
Nach der Vorstellung saßen sie im Theaterklub, tranken Bier und waren so mit Nachdenken beschäftigt, dass sie verpassten, zur rechten Zeit zum Bahnhof zu gehen.
Bei Frau Pulver war die Liebe zum Theater immer an die Liebe zu Männern gebunden. Selbst bei fortschreitender Schwangerschaft – oder vielleicht gerade deswegen – war sie umworben wie eh und je. Wahrscheinlich weckte ihr Zustand bei Männern den Beschützerinstinkt.
Der vorläufige Sieger war ein Bühnenmaler. Er besaß eine große Wohnung in der Altstadt, in der sich wunderbare Partys feiern ließen. Eingerichtet war sie mit Möbeln aus dem Theaterfundus, die sich der Bühnenmaler »ausgeliehen« hatte, da sie seiner Meinung nach nur unnütz auf dem Speicher herumstanden. Teilweise waren es schwere Eichenmöbel, der Thron von Macbeth, der Schreibtisch von Faust, aber auch Pappmaché-Installationen.Je nachdem, welche Inszenierung auf dem Programm stand, mussten die Dinge gelegentlich zurückgeführt werden. Aber da die minimalistische Art zu inszenieren zunahm, waren die meisten Möbel Dauerleihgaben. Gefährlich wurde es nur bei Programmänderungen.
Der Bühnenmaler war ein großer Udo-Lindenberg-Fan und besaß dank einer Tante in Hamburg sämtliche bis dahin erschienen Lindenberg-Platten.
Sie lümmelten auf Gretchens Bett unter den Pappmaché-Tannen des Weihnachtsmärchens und hörten Udo.
Micks Lieblingsalbum hieß
Livehaftig
. Es grämte ihn, dass ihm diese
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