Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
suchten. Und dann waren da noch die Umsiedler. So schnell, wie die Bagger die Häuser fraßen, war kaum Ersatz zu schaffen.
Und vielleicht hatte sich Wladimir auch ein bisschen davor gefürchtet, sich für immer in dieser Gegend festzusetzen.
Sie hockten auf dem Küchenfußboden und sprachen über etwas, dass sie »Zukunft« nannten, und setzten vorsichtig ein »unsere« davor.
»Unsere Zukunft« begann in einer Nacht im März. Roswitha lehnte mit dem Rücken an der Heizung und blickte auf die grauen verzogenen Türen der Küchenunterschränke und den Wachstuchvorhang, hinter dem die leeren Flaschen standen. Wladimir stand am Herd und kochte Tee. Er kniete sich neben Roswitha und reichte ihr die Tasse. Sie erkannte den Geruch sofort: Majoran. Und Waldimir sah sie an, strich ihr die Haare aus dem Gesicht und fragte: »Willst du mich heiraten?«
Wladimir hatte einen Antrag auf Versetzung gestellt. Das Bergbauinstitut in der Bezirksstadt suchte Planungsingenieure. Und es schien wie ein Lottogewinn, als er tatsächlich eine Stelle bekam. Und um das Wunder komplett zu machen, versprach ihm der Betrieb eine Ausbauwohnung.
Ausbauwohnungen waren eine Erfindung der volkseigenen Gebäudewirtschaft, um mit der Arbeitskraft der Mieter Bodenräume und verfallene Dachgeschosse bewohnbar zu machen.
Bei den meisten Altbauten wurden nur die Dächer und die Fassaden rekonstruiert, sodass die Straßenzüge auf den ersten Blick ordentlich erschienen. Doch es waren Potemkinsche Dörfer. Die Renovierung des Innenlebens überließ man der Fantasie und dem Organisationstalent der Bewohner. Zwar gab es für die Besitzer einer Ausbauwohnung Berechtigungsscheine für den Bezug von Baumaterial, aber wenn man mit niemanden vom Baustoffhandel verwandt war, konnte sich der Ausbau hinziehen, denn zuerst kamen die Familie des Verkäufers, dann die Freunde des Verkäufers und dann erst der Rest. Wenn man allerdings an die Rückseite seines Antrags einen Geldschein heftete, konnte es durchaus sein, dass man innerhalb weniger Minuten in den Stand eines Cousins aufstieg. Wladimir war es zuwider, Leute zu bestechen, doch die andere Variante wäre das Klauen von fremden Baustellen gewesen. Wer Baumaterial herumliegen ließ, konnte sich in den seltensten Fällen lange daran erfreuen.
Als im Traktorenwerk der Bau eines neuen Verwaltungsgebäudes begann, freuten sich alle Mitarbeiter, weil damit in Aussicht stand, dass längst fällige eigene Bauvorhaben realisiert werden konnten. Das Haus der Sekretärin hatte einen defekten Schornsteinkopf, und ihr Ehemann hatte ausgerechnet, dass sie für die Reparatur sechzig Ziegelsteine benötigten. Also trug die Sekretärin in ihrer Handtasche drei Monate lang an jedem Werktag einen Ziegelstein nach Hause, und der Transport des zum Mauern benötigten Mörtels wurde in einer Brotbüchse realisiert. Da fast jeder im Werk die Gunst der Stunde nutzte, dauerte die Fertigstellung des Verwaltungsgebäudes zwei Jahre länger. Aber das war man ja gewohnt, dass im Sozialismus nie etwas klappte.
An jedem freien Tag fuhr Wladimir in die Stadt und baute an der Wohnung. Das »Traumschloss« war ein alter Dachboden, auf dem noch die Kiste mit Streusand stand, mit dem während der Fliegerangriffe die Brandbomben hatten gelöscht werden sollen. Über die Jahrzehnte hatten sich nicht mehr benötigte Möbel angesammelt, Schutt, Staub und Taubenkacke. Die wahren Feinde des Sozialismus waren die Tauben. Sie nutzten jedes noch so kleine Schlupfloch im Dach, um gewaltsam in die Häuser einzudringen und die Dachböden mit ihrer Brut zu bevölkern. Und nicht nur das. Sie ebneten den Weg für den Regen, der durch die Einfluglöcher in die Häuser rann. Doch all das war nichts gegen den wirklichen Feind. Die Tauben waren der Wirt für einen der gefährlichsten Agenten: die Taubenzecke. Die nur wenige Millimeter großen Taubenzecken arbeiteten sich in geheimer Mission von Etage zu Etage voran, setzten sich in Holzbalken und Mauerwerk und bewiesen unfassbare Geduld beim Warten auf ihre Beute. Keinem CIA-Agenten wäre es gelungen, zwölf Jahre lang ohne Nahrung hinter einer Tapete auf seine Opfer zu lauern. Der Taubenzecke schon.
Die Taubenzecken konnten sich auch deshalb ungehemmt ausbreiten, weil sie offiziell nicht existierten. Zwar galten sie nach dem Seuchengesetz als Gesundheitsschädling, aber genau darin lag der Grund für ihre Ausbreitung. Hätten das Hygieneinstitut und die Gebäudewirtschaft den Befall einer Wohnung mit
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