Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
wieder aufs Bett und hörte »Bach auf Abwegen«.
Als die Platte fast zu Ende war, kam Wladimir mit dem Frühstück. Er stellte das Tablett aufs Bett, und sie saßen beide nebeneinander auf der Isomatte. Es gab zähe Konsumbrötchen mit Kunsthonig, Ei, Leberwurst und grusinischen Tee. Mehr war nicht im Angebot der Kaufhalle gewesen. Sie aßen schweigend. Roswitha hörte weiter auf die Musik und dachte, dass sie eine Note auf der Straße war, die nach vorn laufen musste. Immer vorwärts, egal, was kam. Tief in sich spürte sie Trauer, doch es gab nichts mehr darüber zu sagen. Innerhalb von einer Nacht war sie durch eine Tür in ein anderes Leben gegangen, und die Tür war hinter ihr zugeschlagen.
Wladimir brachte sie mit seinem Trabantkübelwagen nach Hause zu ihren Eltern. Roswithas Mutter war völlig aus demHäuschen: »Endlich keiner von diesen Hottentotten!« Roswitha saß nachmittags um vier zum »Kaffeetrinken«, dieser deutschen Unmahlzeit, neben Wladimir auf dem Sofa. Und die Mutter sagte: »Herr Wladimir, möchten Sie noch eine Tasse Kaffee?« Und: »Herr Wladimir, möchten Sie noch ein Stück Quarktorte? Ohne Boden, Herr Wladimir!« Und Herr Wladimir aß brav zwei Stück Quarktorte ohne Boden, mit guter Butter, und trank drei Tassen Kaffee, obwohl er leichten Bluthochdruck hatte.
Und als er ging, sagte die Mutter: »Kommen Sie doch bald wieder, Herr Wladimir!« Und Herr Wladimir sagte: »Aber sehr gern, Frau Sonntag!«.
Und der Vater, der die ganze Zeit nichts gesagt hatte, was nicht weiter auffiel, da er mit zunehmendem Alter immer weniger sprach, sagte, als Wladimir gegangen war, zur Mutter: »Man könnte meinen, es wäre dein neuer Freund!«
Im Werk waren alle zurückhaltend; es hatte sich herumgesprochen, dass Roswithas beste Freundin gestorben war. Viele Kollegen nickten Roswitha in der Kantine nur zu, statt das verhasste »Mahlzeit!« zu sagen, und Roswitha dachte, dass Frau Pulvers Tod ein hoher Preis für diesen Verzicht war.
Roswitha hatte alle Briefe von Frau Pulver in einen großen Schuhkarton gepackt und den Karton mit Bindfaden verschnürt, als wolle sie das Paket auf eine Reise schicken.
Niemand meldete sich. Mick nicht, Zappa nicht, der Bühnenmaler nicht, der Nachbar nicht, der Dichter nicht, die Malerin mit Waschzwang nicht und der Westdeutsche nicht. Der Westdeutsche war, wie sich später herausstellte, gar kein Westdeutscher, und er war auch nicht, wie mancher vermutet hatte, ein Geheimdienstmitarbeiter, sondern einfach nur ein Schnorrer, der es liebte, auf Partys freigehalten und umworben zu werden.
Roswitha dachte, dass die Handwerker bald wieder auftauchen würden, um herauszufinden, was Roswitha wusste. Sie schlief quasi mit dem Gummihammer in der Hand, um sofort auf jeden Maulwurf zu schlagen, der sich zeigte. Doch als wochenlang nichts geschah, verdrängte sie ihre Angst.
Im Werk nahm alles seinen gewohnten Gang. Anfangs zügelten sich die Kollegen und hielten sich mit Bemerkungen zurück, doch ewig konnte keine Rücksicht genommen werden. Warum sollten sie nicht auch einmal das Thema Selbstmord am Frühstückstisch besprechen? »Heutzutage gar nicht mehr so einfach«, sagte die Sekretärin, die in einer Neubauwohnung mit Elektroherd wohnte. »Oder soll ich mich etwa mit dem Hintern auf die Herdplatte setzen?«
Es gab ein neues Spiel; die Frauen verfassten Todesanzeigen für ihre Ehemänner. Lieblingswort war »erlöst«, und selbstverständlich bezogen sie dieses Wort auf sich selbst.
Nur der Produktionsdirektor hatte sich verändert. Er wurde immer schweigsamer und trank seinen Eierlikör meist allein hinter geschlossener Tür.
Roswitha ahnte, was ihn quälte. Der Produktionsdirektor wusste, dass sie in diesem Jahr den Plan nicht erfüllen würden. Zwar hatten sie noch nie den Plan erfüllt, aber immer war es am Jahresende gelungen, das Betriebsergebnis »schönzurechnen«, und sei es mit einer Plankorrektur. Doch in diesem Jahr gab es ein Loch von 1000 Traktoren, und zu allem Unglück hatte sich eine Bilanzkontrolle vom Finanzministerium angekündigt. Die Hauptbuchhalterin war so nervös, dass sie nicht einmal mehr die innere Ruhe zum Mittagsschlaf fand. Das größte Problem waren die Zulieferer. Mal klemmte es bei den Reifen, mal bei der Plasteverkleidung für die Dächer. Und in diesem Jahr waren es ebendie Motoren. Es fehlten 1000 Stück zur Planerfüllung. Die fertigen Karossen standen auf dem Feld hinter der Werkhalle und sahen aus, als könnten sie sofort
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