Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
Kunststudenten empört reagierten. Das Künstlersein zeigte sich bei vielen bereits in der Kleidung. Besonders beliebt waren Schals, Hüte und weite Mäntel. Im Laufe des Studiums verschwanden viele dieser Accessoires. Je länger Roswitha studierte, desto deutlicher wurde ihr, dass der Dozent recht hatte. Es gab immer wieder Momente, in denen sie sich wünschte, Schuhverkäuferin zu sein oder Straßenbahnfahrerin und sich einen Beruf herbeisehnte, in dem sie sich nicht mit Selbstzweifel plagen musste. Künstler sein war ein Anspruch, den man nicht halb erfüllen konnte, dem sich alles unterordnen musste. Doch auch das genügte noch nicht. Künstler sein bedeutete auch, dass man sein Handwerk beherrschte, denn ein anderer Spruch lautete: »Kunst besteht zu neunzig Prozent aus Fleiß und zu zehn Prozent aus Talent.« Nach den ersten Studienwochen begriff Roswitha, dass sie sehr wenig über Fotografie wusste. Sie stand völlig am Anfang. Alle ihre bisherigen Bilder waren nur aus glücklichen Zufällen entstanden.
Doch zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Roswitha Lust zum Lernen. Sie verzichtete lieber auf eine Party, um in der Dunkelkammer zu arbeiten. Sicher dachten viele, sie sei eine Streberin. Bei den Feiern im Studentenklub, der im Übrigen auch hierneben dem Heizungskeller lag, blieb sie meist nur bis kurz vor Mitternacht, um die letzte Straßenbahn zu erreichen. Die Zeit der Kehrmaschinenfahrten war vorüber. Sie vermied Feiern, die nahtlos in den Seminarbeginn übergingen, und kam sich unendlich schmutzig vor, wenn sie betrunken mit nach kaltem Zigarettenrauch riechenden Sachen in Vorlesungen saß. Jetzt, wo es jeder als Teil ihres Künstlerlebens akzeptiert hätte, fand sie keine Freude mehr daran. Es war merkwürdig. Egal, was sie machte, immer befand sie sich zwischen den Welten.
Das Gebäude des MoMa war nicht, wie von Roswitha erwartet, ein historisches Haus mit dicken Mauern und holzgetäfelten Räumen, sondern ein modernes, helles Gebäude. Überrascht inspizierte Roswitha das lichtdurchflutete Treppenhaus. Die Wände waren weiß gestrichen, der Boden aus grauem Stein. Alles hatte klare Formen. Fuhr man mit der Rolltreppe nach oben, blickte man durch ein verglastes Rechteck auf eine andere Treppe. Die Stufen und das Geländer bildeten ein geometrisches Muster und wurden selbst zu Kunst. Roswitha war begeistert. Schon allein in dem Gebäude steckte eine große künstlerische Idee.
Auf der Flucht vor der Besuchermenge in der Eingangshalle fuhr Roswitha bis in die fünfte Etage. Als sie den ersten Saal betrat, musste sie tief durchatmen. Sie hatte schon viele Ausstellungen gesehen, aber trotzdem war sie immer wieder überrascht. Dort war Cézanne, dort Chagall, dort Rousseau, ah, und dort Kandinsky.
In der Hochschule hatte Roswitha vor allem die Kunstgeschichtsvorlesungen geliebt. Es war die erste Veranstaltung am Montagmorgen gewesen. Und da viele Studenten es vorzogenauszuschlafen, waren sie nur eine kleine, eingeschworene Gemeinschaft, die sich Woche für Woche auf einen Rundgang durch die Museen der Welt begab. Die Dozentin, eine Frau in mittleren Jahren, beeindruckte durch ihr Wissen, ihre tiefe Stimme und ihre repräsentative Körperfülle. Breitbeinig stand sie im Halbdunkel neben der Leinwand und gab dem Studenten, der den Diaprojektor bediente, die nötigen Anweisungen: »Büttö!«
Roswitha erinnerte sich, während sie von Bild zu Bild lief, genau an den Tonfall. »Büttö!« Magritte. »Büttö!« Chagall. »Büttö!« Monet.
Staunend wie ein Kind stand sie nun vor diesen Bildern, und sie merkte, dass sie lächelte. Sie lächelte über die Leichtigkeit der Farben bei Chagall. Sie lächelte über die Anziehungskraft von van Goghs Sternennacht und musste sich zurückhalten, nicht über die Himmelswölbungen zu streichen. Minutenlang verharrte sie im heiteren Gebet vor Monets Seerosen. Keine Fotografie, keine dreidimensionale elektronische Darstellung würde jemals dieses Gemälde abbilden können. Alle diese Bilder gab es nur ein einziges Mal, und wenn man sie wirklich sehen wollte, musste man ihnen gegenübertreten und sie besuchen, so wie man einen Freund besuchte. Roswitha lief durch die Säle und bekam das Gefühl, dass alle Bilder, die sie jemals gesehen hatte, in diesem Haus versammelt waren. »Büttö!«
Die Dozentin hatte ihre Vorträge stets mit Tagebucheintragungen und Briefen der jeweiligen Künstler angereichert und trug diese Texte mit großer Empathie vor. Es war deutlich zu
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