Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
einfach an ihrem Schreibtisch sitzen bleiben und warten können, bis es jemandem auffiel – was unter Umständen Jahre dauern konnte.
Roswitha nahm ihre Situation als eine Zäsur, die sie zwang, nachzudenken und sich endlich zu entscheiden. Sie kam zu dem Entschluss, den Größenwahn zu wagen. Roswitha bewarb sich an der Kunsthochschule für ein Fotografiestudium. Gemeinsam mit Wladimir suchte sie die Fotos für die Bewerbungsmappe aus.
Ach, Wladimir. Mit ihm war Ruhe in Roswithas Leben gekommen.
Mick war ein Getriebener, Wladimir war ein Angekommener. Für ihn schien nichts ein Problem zu sein. Er tat alle Dingemit Bedacht und völlig unaufgeregt. Am Anfang hatte er ihr viel Zeit gelassen. Aus Furcht vor den Freundlichkeitsübergriffen ihrer Mutter war Roswitha an den Wochenenden meist zu Wladimir gefahren. Auch wenn das Leben in einem Arbeiterwohnheim nicht unbedingt romantisch war, fühlte sie sich geborgen. Sie machten lange Spaziergänge durch die Tagebaulandschaft, die Roswitha gleichermaßen faszinierte wie beängstigte. Wie ein Gebirge zogen sich die Abraumhalden um den Tagebaukessel, Bergketten aus staubiger, toter Erde. Durch die Grube hallte das Rumpeln der fahrenden Züge, das harte metallische Aneinanderstoßen der Waggons beim Rangieren, das Schlagen der Ladeklappen, das Pfeifen des Windes, der das Klagelied der Bagger mit sich trug. Manchmal, wenn Wladimir am Wochenende Schicht hatte, stapfte Roswitha, ausgerüstet mit gelbem Helm, Wattejacke und Filzstiefeln, allein durch den Tagebau. Jetzt kannte sie alle Wege. Mit Erlaubnis der Bergbaudirektion arbeitete sie an einem Fotoprojekt.
Es hatte Roswitha seit ihrem ersten Besuch nicht losgelassen. Sie fotografierte Gleisarbeiter, die bei Minusgraden Eisenbahnschwellen verlegten, Bergleute, die mit Eisenstangen festgefrorene Kohlebrocken von den Förderbändern klopften, und Bautrupps, die bei Regen Sicherungswälle anlegten, damit der Bagger nicht über den schlammigen Abhang in die Grube rutschte. Sie sah ihnen mit der Kamera in die Gesichter, sah Erschöpfung, aber auch Stolz. Nach und nach verlor Roswitha die Distanz, traute sich näher heran, saß mit den Arbeitern in der Kantine am Tisch und fotografierte die Frühstücksrationen, die nicht selten aus mehreren Bockwürsten, Knackern oder Bouletten bestanden. Und wie bei ihrem ersten Besuch stand sie nach der Schicht mit den Bergmännern in der »Frohen Zukunft« und sah ihnen zu, wie sie versuchten,sich mit Kumpeltot den Staub aus dem Körper zu spülen. Nur den Anblick der verlorenen Dörfer konnte Roswitha noch immer nicht ertragen, und es schmerzte sie jedes Mal, wenn sie den Auslöser drückte. Viele der Umgesiedelten hatten als Ersatz eine Plattenbauwohnung bekommen. Man erkannte die Wohnungen sofort. Die Balkonkästen waren üppiger bepflanzt, und auf den Rabatten vor den Hauseingängen wuchsen Radieschen, Salat und Petersilie. In vielen Garagen am Rande der Siedlung standen keine Autos, sondern Kaninchenställe. Wenn man in der Nähe stehen blieb und die Augen schloss, hätte man denken können, man sei auf dem Land. Doch wenn man sie öffnete, war alles wieder betongrau.
Nachts klapperten im Wohnheim die Fenster und Türen, und der Wind heulte in den Fluren. Oft saßen Roswitha und Wladimir, wie in der ersten Nacht, auf dem Küchenfußboden und rauchten.
Wladimir hatte die Arbeit im Tagebau als Herausforderung gesehen, doch ihm kamen immer mehr Zweifel, wofür er und viele andere ihre Gesundheit aufs Spiel setzten. Die ständigen Schichtwechsel, der Stress, die Kälte, die Wärme, der Staub. Er trank Kaffee, um sich nachts wachzuhalten, und rauchte, weil er sich einbildete, dass er damit den Stress besser ertragen konnte. Der Betriebsarzt hatte bei Wladimir Bluthochdruck festgestellt. Die Bergleute arbeiteten und arbeiteten, zerstörten die Landschaft und ihre Gesundheit – und wofür? Damit die Brikettfabriken die beste Kohle in handlichen Bündeln in Richtung Westen schicken konnten. Die schlechten Kohlequalitäten dagegen blieben im Land und verpesteten beim Verbrennen die Luft. Hauptsache, der Exportplan stimmte.
Wladimir hatte das Leben im Arbeiterwohnheim satt. Seitfünf Jahren wartete er auf eine eigene Wohnung. Er hatte keine Zeit, ständig zu den Ämtern zu gehen, er war niemand, der sich vordrängelte. Doch wer den Mitarbeitern auf den Ämtern nicht ständig auf die Nerven ging, blieb unbeachtet. Die Arbeiterwohnheime waren voller junger Männer, die eine eigene Wohnung
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