Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
Taubenzecken amtlich beglaubigt, wären die Wohnungsämter verpflichtet gewesen, eine Ersatzwohnung zur Verfügung zu stellen. Also wurden die Taubenzecken, samt den von ihnen verursachten Krankheiten, nach Möglichkeit verschwiegen.
Nach dem Mauerfall hatte Roswitha die These aufgestellt, dass eigentlich die Taubenzecken der Auslöser der sogenannten»friedlichen Revolution« gewesen seien, denn zu einem großen Teil war es auch eine Revolte gegen die schlechten Wohnbedingungen gewesen.
Noch ahnten sie allerdings nichts vom unsichtbaren Feind, und Wladimir baute mit großem Geschick die Wohnung aus. Roswitha fotografierte alle Bauphasen: Wladimir mit dem Stemmeisen bei einem Wanddurchbruch, Wladimir beim Einsetzen der Fenster, Wladimir beim Verschrauben der Dämmplatten, beim Kabelziehen, Fliesen, Tapezieren und beim Bastmattenverlegen. Die Bastmatte war ein Kapitel für sich. Die Bastmatten hatten einen eigenen Geruch, der die Wohnung für immer beherrschte. Sie gaben den Fußböden ein helles, sauberes Aussehen. Die Wirklichkeit erfuhr man erst, wenn man beim Umräumen oder bei einem Auszug die Bastmatten anhob und den kompakten Staubfilz sah.
Weder Wladimir noch Roswitha besaßen Möbel. Sie streiften durch das Gebrauchtwarenhaus. Kauften einen großen, ausziehbaren Gründerzeittisch, der, wie sich nach dem ersten Gebrauch herausstellte, mit wasserlöslicher Beize behandelt worden war und jedem der daran saß, die Unterarme und Hände schwarz färbte. Eine Stehlampe mit Wackelkontakt, einen Bücherschrank, ein Küchenbuffet, ein goldgerahmtes Bild mit einem Engelsreigen.
Die Formulierung »sich einrichten« bekam einen neuen Klang. Sie richteten sich ein, in einem gemeinsamen Leben, auf ein gemeinsames Leben. Sich einrichten hieß auch sich abfinden, zufrieden sein, mit dem was man hatte. Und sie waren zufrieden. Wladimir hatte eine neue Arbeit im Institut, mit geregelten Arbeitszeiten.
Roswitha hatte sich mit ihren Tagebaubildern an der Hochschulefür ein Fotografiestudium beworben. Die Dozenten waren sehr angetan gewesen von den Porträtfotos der Bergleute. Über die Bilder der zum Abriss freigegebenen Dörfer wurde nicht gesprochen.
Roswitha und Wladimir heirateten im Mai 1986. Es war ein sonniger Tag, der Flieder duftete, die Maiglöckchen blühten, überall spross zartes Grün, die Natur war im Aufbruch, und Wladimir und Roswitha waren es auch.
Die Zappamutter hatte ihnen zur Feier ihren Garten überlassen und sogar eine Flasche »Eckes Edelkirsch« spendiert.
Sie saßen auf bunt gestrichenen Gartenstühlen an einer weiß gedeckten Tafel, hörten in gesitteter Lautstärke Musik und tranken den Alkohol in Maßen. Zappa, der mittlerweile an der Filmhochschule in Babelsberg studierte, filmte das Fest mit einer Videokamera, die ihm sein Westvater geschenkt hatte. Alle bestaunten die neue Kamera, die gleichzeitig Bild und Ton aufnehmen konnte. Nur Mick war nicht gekommen. Er hatte überhaupt nicht auf Roswithas Einladung reagiert. Erst einen Monat nach der Hochzeit kam eine Postkarte. Ein Gemälde von Walter Womacka, einem glühenden Vertreter des sozialistischen Realismus. Es war ein Ausschnitt aus dem Fries, der sich um das »Haus des Lehrers« in Berlin spannte. Eine junge Frau im roten Kleid mit Blumenstrauß, daneben ein Mann mit einem Kind auf dem Arm. Und über allem strahlte wie eine Sonne das Emblem der DDR: Hammer Sichel und Ährenkranz.
Auf der Rückseite standen vier Zeilen aus Schillers Siegesfest:
»Glücklich wenn der Gattin Treue
Rein und keusch das Haus bewahrt!
Denn das Weib ist falscher Art
Und die Arge liebt das Neue!«
8
DAS SCHLECHTE WETTER hatte sich schon seit Tagen angekündigt. Der Himmel war finster, sodass Roswitha bereits am Morgen dachte, es würde gleich wieder Abend werden. Sie freute sich auf das Treffen mit Malenga. Am Mittag teilte sie das Essen aus: »Today we have fried chicken with sweet potatoes and green salad!« Es kamen weniger Gäste als sonst, und der Abwasch war schnell erledigt. Sie hatte noch fünf Stunden Zeit bis zum Abend im Veteranenklub. Zum Spazierengehen war es zu windig, und so verordnete sich Roswitha ein Museumsprogramm. Sie schwankte zwischen Guggenheim-Museum und dem Museum of Modern Art und entschied sich für das »MoMa«, vier Buchstaben wie ein Schwur. Sie erinnerte sich an einen Dozenten der Kunsthochschule, dem erlaubt worden war, zu einer Konferenz nach New York zu fahren. Nach seiner Rückkehr erzählte er von seinem MoMa-Besuch. Es
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