Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
war der Bericht aus dem Schlaraffenland. Bei den Namen der Maler begann er zu flüstern, wie jemand, der genüsslich Leckereien aufzählte, die ihm der Arzt verboten hat: Cézanne, van Gogh, Kandinsky, Miró, Dalí, Lichtenstein, Warhol.
Während ihres Fotografiestudiums hatte sich Roswitha immer zu den Malklassen hingezogen gefühlt. Malerei war etwas, das sie uneingeschränkt bewundern konnte. Sie musste niemanden ablehnen, keiner Malschule folgen, sich mit nichts ins Verhältnissetzen. Als Kriterium galt nur: Dieses Bild gefällt mir, oder es gefällt mir nicht.
Leider hatte nicht nur Roswitha bei diesem Wetter die Idee zu einem Museumsbesuch gehabt. Im Foyer drängten sich Touristen aus vielen Nationen. Und sie erinnerte sich an den Satz des Cowboys: »Wenn du in New York wohnst, musst du nicht in den Urlaub fahren, denn es sind alle schon da.« Aber warum alle auf einmal? Und warum ausgerechnet hier in dieser Kunstausstellung?
Dabei hätte sie gewarnt sein müssen. In ihrer Jugend war nicht nur das Anstehen an Plattenläden, sondern auch an Kunstausstellungen normal gewesen. In Zeitabständen von einigen Jahren wurde in Dresden moderne DDR-Kunst präsentiert und dafür sogar das Albertinum geräumt. Die letzte Kunstausstellung vor dem Mauerfall hatte eine Besucherzahl von über einer Million gehabt, was bei sechzehn Millionen DDR-Bürgern schon ein beachtlicher Schnitt war, wenn man kleine Kinder, Alte und Gehbehinderte abzog. Zwar waren nicht alle Besucher freiwillig gekommen, viele Betriebskollektive mussten die Besichtigung der »Schmierfinken« als »kulturelle Maßnahme« über sich ergehen lassen. Und auch wenn sie in Gedanken schon bei dem Radeberger Pilsner »danach« waren, gab es doch immer heftige Diskussionen über die Bilder.
Ein Gemälde, das über viele Jahre für Gesprächsstoff gesorgt hatte, war die »Ausgezeichnete« von Wolfgang Mattheuer gewesen. Das Bild zeigte eine ältere Frau, die mit hängenden Armen und gesenktem Blick an einer langen, weiß gedeckten Tafel saß. Vor ihr auf dem Tisch lag ein schlaffer Tulpenstrauß. Das war keine Arbeiterin, die sich über ihre Auszeichnung freute, sonderneine müde Frau, die ihrem Betrachter nicht einmal in die Augen sah. Das Bild unterschied sich deutlich von den heroischen Arbeiterdarstellungen vieler anderer Maler. Einsamkeit und Resignation waren in der sozialistischen Arbeitswelt nicht vorgesehen.
Die Maler, ebenso wie die Schriftsteller, wollten eine eigenständige sozialistische Nationalkultur entstehen lassen und die »Entfremdung zwischen Künstler und Volk« aufheben. Also musste das Volk gemalt werden. Besonders beliebtes Motiv waren Stahlwerker und LPG-Bauern, und einer der Höhepunkte des sozialistischen Kunstschaffens war 1968 die Ausstellung »Sieger der Geschichte« während der X. Arbeiterfestspiele in Halle gewesen.
Die Kunsthochschule, an der Roswitha sich beworben hatte, machte eher einen bürgerlichen Eindruck. Es war ein monumentaler Bau mit einer rötlichen Steinfassade und hohen, gewölbten Fenstern. Hinter dem breiten Eingangsportal lag ein großer Lichthof. Als Roswitha an ihrem ersten Studientag die Eingangshalle betrat, wäre sie vor Ehrfurcht fast erstarrt und hatte kaum gewagt, den schönen Fliesenboden zu betreten. Bis zum Ende ihres Studiums vermied sie es, über das Ornament in der Mitte zu laufen. Die Hochschule hatte etwas Ehrwürdiges; immerhin zählte sie zu den ältesten deutschen Kunsthochschulen, und sie hatte gleichzeitig auch etwas Leichtes, Inspirierendes. Vielleicht war es der helle Lichthof, der heiter stimmte. In der Nähe der Werkstätten roch es nach Farbe, Firnis, Staub, Papier und vor den Dunkelkammern nach den Lösungen zur Filmentwicklung. Es war der Geruch von Kunst und Kreativität. Immer wurde gearbeitet, gestritten, sich versöhnt und wieder gestritten.
Roswitha faszinierte, mit welcher Sicherheit die Maler ihreLeinwände füllten. Sie hatten ihre Motive im Kopf, während Roswitha bei ihrer Arbeit darauf lauern musste, dass sie im richtigen Moment das richtige Motiv sah.
Der Anspruch war hoch und geisterte als Bonmot durch die Seminare: »Wir machen hier Kunst und nicht Kunstgewerbe.« Der Dozent, von dem dieser Ausspruch stammte, hatte sie schon in seiner Antrittsvorlesung mit der Bemerkung provoziert: »Wenn Sie nach diesem Studium festgestellt haben, dass Sie kein Künstler mehr sein wollen, dann haben wir unser Ziel erreicht.« Ein Satz, auf den die glücklich immatrikulierten
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