Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
spüren, wenn ihr ein biografisches Detail missfiel, wie zum Beispiel das Liebesleben Wassily Kandinskys, der viele Jahre lang in Bigamiemit seiner russischen Ehefrau und seiner deutschen Verlobten, der Malerin Gabriele Münter, gelebt hatte. Er ließ sich von Münter umsorgen, und sie rettete nach der Flucht in die Schweiz seine Bilder. Doch statt ihr zu danken und seine Beziehung zu ihr zu legalisieren, heiratete er nach seiner endlich erfolgten Scheidung eine jüngere Russin. Die Stimme der Dozentin bebte. In solchen Momenten trat ihre Wertschätzung für Kandinsky in den Hintergrund, und sie ließ deutlich spüren, wem ihre Sympathien galten.
Ein halbes Jahr nach der Hochzeit wurde Roswitha schwanger. Sie spürte sofort die Veränderung in ihrem Körper. Die Schwangerschaft gab ihr Kraft und Gelassenheit. Oft saß sie einfach nur da, die Hände auf den Bauch gelegt und versuchte sich das Kind darunter vorzustellen. War es ein Junge oder ein Mädchen? Welche Haarfarbe würde es haben? Wie würde sein Lachen klingen?
Wladimir war überglücklich. Er kaufte Spielsachen, besorgte eine alte Wickelkommode, die er abschliff und neu anstrich. Er baute das Arbeitszimmer als Kinderzimmer um, und einen Monat vor der errechneten Geburt war alles für das Baby bereit. Bis zur Entbindung wussten sie nicht, ob es ein Junge oder ein Mädchen werden würde. Zwar hatte Roswitha im fünften Monat einen Ultraschalltermin in der Frauenklinik gehabt, doch der Arzt war ein kleiner, tatarisch aussehender Mann, der während der Untersuchung kein Wort sprach. Ob aus Unfreundlichkeit oder mangelnder Sprachkenntnis, wusste Roswitha nicht zu deuten. Ihr Versuch, selbst auf dem Monitor etwas zu erkennen, brachte eher Verwirrung. Sie sah nur Schatten und Lichtreflexe, und wenn ihr jemand gesagt hätte, in ihrem Bauch würde ein Eichhörnchen heranwachsen, hätte sie es auch geglaubt.
Wladimir wünschte sich ein Mädchen und hatte, um jeden Zweifel zu beseitigen, eine rosa Ausfahrgarnitur gekauft.
Glücklicherweise wissen Neugeborene nichts von der Einteilung der Welt in Hellblau und Rosa, und sein Sohn nahm friedlich schlafend hin, als Tochter bestaunt zu werden. Fatal war nur, dass sie sich in Anbetracht von Wladimirs Überzeugung auf keinen Jungennamen festgelegt hatten. Als Roswitha ihren Sohn das erste Mal im Arm hielt, musste sie lachen. Er hatte abstehende Ohren, die Haare standen ihm zu Berge, und er verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. »Frech wie Oskar«, dachte sie.
Die Großeltern waren über den Namen entsetzt und konnten sich nur langsam daran gewöhnen.
Oskar war ein Wunder. Sie saßen auf dem Fußboden neben dem Bettchen und bestaunten stundenlang ihr wunderschönes Kind. Sie hörten auf jeden Atemzug und brachen bereits in Panik aus, wenn Oskar die Nase krauszog und nieste.
Manchmal dachte Roswitha an Rilke. Sie hätte gern gewusst, wie er jetzt aussah, doch es gab keinen Kontakt. Der Schauspielergeliebte hatte tatsächlich einen Sorgerechtsantrag beim zuständigen Jugendamt gestellt und bis zur letzten Instanz gekämpft, mit dem Resultat, dass ihm sogar das Umgangsrecht mit seinem Sohn abgesprochen worden war. Nur Alimente durfte er zahlen.
Solange sie stillte, nahm Roswitha Oskar mit in die Hochschule. Nach einem halben Jahr bekam sie ein Kinderkrippenplatz. Es tat ihr weh, wenn sie Oskar am Morgen abgeben musste.
Er war ein dickes Kleinkind, mit Speckfalten im Nacken und an den Handgelenken. Seine Oberschenkel hatten einen beachtlichen Umfang. Er lag, wo er lag, und wenn er, von Kissen gestützt, unbeweglich auf dem Sofa saß, wirkte er wie ein Buddha. Die Studenten aus den Malklassen waren begeistert und überredetenRoswitha immer wieder, ihnen den Buddha als Modell zu überlassen. Mutter, Vater, Kind war ein beliebtes Motiv. Wer allerdings eine Heilige Familie des Sozialismus erwartete, wurde enttäuscht. Die oft als Selbstporträts angelegten Bilder von Paaren strahlten einen solchen Pessimismus aus, dass sie den Betrachter depressiv machten. So viele unglückliche Beziehungen konnte es gar nicht geben. Roswitha schämte sich fast, dass sie zufrieden mit ihrem Leben war. Konnte es verwerflich sein, dass sie ihre Mutterrolle gern erfüllte? Hätte sie Abscheu gegen Hausarbeit empfinden müssen, statt sich darüber zu freuen, dass die Böden sauber und die Fenster geputzt waren? Oder war sie bereits in den Aggregatzustand einer Spießerin übergegangen?
Oskar war fast sieben Monate alt, als er das erste Mal
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