Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
Fieber bekam. Schon den ganzen Tag über war er quengelig gewesen und hatte sich abwechselnd von Roswitha oder von Wladimir durch die Wohnung tragen lassen. Am Abend war seine Stirn heiß, und er zitterte am ganzen Körper. Roswitha gab ihm ein Fieberzäpfchen und versuchte Wadenwickel zu machen, aber er schrie, sobald der Waschlappen seine Beine berührte. Sie versuchte es mit kalter Luft. Das Brummen des Föns beruhigte ihn, und für einen Moment schien es, als würde er einschlafen, doch dann begann er wieder zu schreien. Wladimir und Roswitha wussten sich keinen Rat mehr. Sie zogen Oskar an und trugen ihn in eine Babydecke gehüllt in die nahe gelegene Poliklinik. Der diensthabende Arzt guckte beeindruckt auf das schreiende Kind, gab aber zu, als Augenarzt überfordert zu sein. Er riet ihnen, in die Kinderklinik zu fahren. Nur widerwillig telefonierte die Krankenschwester an der Anmeldung nach einem Taxi und verlangte danach, von Wladimir zwanzig Pfennige für den Anruf. Der Arztin der Kinderklinik legte den nackten Oskar sofort ans offene Fenster, doch auch dadurch sank das Fieber nicht. Irgendwann hatte Oskar keine Kraft mehr zu schreien. Er wirkte völlig apathisch, nur sein Brustkorb hob und senkte sich hektisch. Mittlerweile war es zwei Uhr nachts, und sie waren die einzigen Patienten in der Kindernotaufnahme. Weil er nichts tun konnte oder vielleicht auch nur, um beschäftigt zu wirken, begann der Arzt Oskar zu wiegen und zu messen und stellte fest, dass der Kopfumfang zwei Zentimeter über der Norm lag. Roswitha hatte sich über Oskars großen Kopf nie Gedanken gemacht, und auch die Ärztin in der Mütterberatung hatte nie etwas Bedenkliches entdeckt.
»Ach, die Mütterberatung«, sagte der Arzt, »so genau gucken die auch nicht hin.«
Er gab ihnen eine Überweisung, mit der dringenden Aufforderung am nächsten Morgen um acht in der Ambulanz der Klinik zu erscheinen. Kurz vor vier Uhr war das Fieber endlich gesunken und Oskar schlief. Der Arzt gestattete ihnen, nach Hause zu gehen, erinnerte sie aber noch einmal an den Ambulanztermin am Morgen. Der Pförtner am Eingang versuchte vergeblich, ihnen ein Taxi zu rufen, denn natürlich nahm bei VEB Taxi um diese Zeit niemand mehr den Telefonhörer ab. Sie beschlossen, zu laufen und unterwegs ein Schwarztaxi anzuhalten. Doch das war Wunschdenken, denn ihnen begegnete kein einziges Auto. Wladimir trug seinen schlafenden Sohn sechs Kilometer durch die nächtliche Stadt nach Hause. Als sie ankamen, war es fünf Uhr. In drei Stunden hatte sie einen Termin in der Klinikambulanz. Wladimir hatte gerade noch Zeit, seine Aktentasche zu packen. Roswitha legte Oskar in den Kinderwagen und fuhr mit der Straßenbahn zurück zur Klinik. Oskar schlief die ganze Zeit, undwenn Roswitha ihm über die Wange strich, öffnete er die Augen nur halb und nickte gleich wieder weg.
Die behandelnde Ärztin fuhr Roswitha an, wieso sie erst jetzt käme. Roswitha wusste nicht, was sie meinte, und sagte, dass sie pünktlich um acht Uhr dagewesen sei. Diese Antwort brachte die Ärztin erst recht auf die Palme, und sie schrie, Roswitha solle nicht frech werden. »Was sind Sie für eine Mutter, die nicht einmal merkt, dass ihr Kind nicht normal ist! Sonnenuntergangsphänomen! Das sieht doch jeder!« Roswitha bekam eine Überweisung zum Ultraschall. In der Zeile hinter Diagnose stand: Wasserkopf oder Hirntumor.
Der nächste Raum, den sie betrat, war abgedunkelt. An einem breiten, grauen Pfeiler hing ein matt angestrahltes Bild. Roswitha erkannte es sofort. Eigentlich war es nur eine eilig auf Papier gebrachte Pastellzeichnung: die Brücke, das Land, das Meer mit Strichen angedeutet, die leeren Flächen ausgemalt, wie von einem Kind, das schnell fertig werden wollte. War gerade das die Faszination, die Dringlichkeit der Botschaft, die keine Zeit ließ für Filigranarbeit? Der deformierte Kopf, die an die Ohren gelegten Hände, der ovale, weit geöffnete Mund als Sinnbild für Schmerz und Verzweiflung. Ein stummer Schrei, von niemandem beachtet, denn die beiden Männer im Hintergrund wandten sich ab und zogen es vor, die Schiffe auf dem Meer zu betrachten. Die Dozentin hatte die Zeichnung als Abbild der inneren Hölle gesehen und mit ihrer tiefen Stimme aus dem Tagebuch des Malers zitiert: »Ich stand still, todmüde – über dem blauschwarzen Fjord und der Stadt lagen Feuerzungen. Meine Freunde gingen weiter – ich blieb zurück – zitternd vor Angst – ich fühlte den großen Schrei der
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