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Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Titel: Wenn die Wale an Land gehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Aehnlich
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es beim Betrachten erschien. Besonders die »Rayografen« hatten es vielen Studenten angetan, und trotz mehrerer Versuche zeigte es sich, dass es nicht genügte, Dinge auf Fotopapier zu legen und zu belichten. Fast alle Resultate hatten wie Röntgenbilder ausgesehen und nicht wie Kunst.
    Roswitha schlenderte durch die »ständige Ausstellung«; hier gab es viele Fotos, die sie aus Bildbänden kannte. Helen Levitt, William Wegman, Robert Mapplethorpe. Schon von Weitemsah sie das Patti-Smith-Porträt, das sie von der LP
Horses
kannte, ein Plädoyer für die Schwarz-Weiß-Fotografie.
    Es war eine von Micks Geschichten gewesen, dass sie alle wie Smith und Mapplethorpe zusammen im »Chelsea Hotel« wohnen würden. Mick hielt das »Chelsea« für die schönste Kommune der Welt. Hier hatten Jimi Hendrix gewohnt, Dalí, Wolfe, Miller, Solanas, und Leonard Cohen hatte eine legendäre Nacht mit Janis Joplin verbracht. »I remember your well at the Chelsea Hotel, you were famous your heart was a legend«. Etwas pathetisch hatte Roswitha tatsächlich vor ihrer Reise versucht, ein Zimmer im »Chelsea« zu buchen. Doch eine Ära war zu Ende gegangen. Nach fünfundsechzig Jahren hatte der alte Eigentümer das Hotel verkauft, und der neue Eigentümer ließ gerade renovieren. Übrig geblieben war ein in den Boden eingelassener Gedenkstein für Leonard Cohen.
    Die Ausstellung war Micks Idee gewesen. Er hatte Roswitha prophezeit, dass sie die Ämter in Stich lassen würden. Es half nur, ihnen den Kampf anzusagen. »Kunst als Waffe«, der alte Spruch. Oder war sie etwa feige geworden? Mick beschwor sie, die Fotos vom Wohnungsausbau zusammen mit Fotos vom kranken Oskar öffentlich zu machen. Aber auf welche Weise? In der Hochschule standen keine Ausstellungen an, und die Zeit drängte. Mick schlug vor, die Wände in Roswithas Hausflur zu nutzen und die Fotos als kulturellen Beitrag zur Ausgestaltung des Treppenhauses zu deklarieren. Wer könnte es ihnen verwehren, wenn sie die schmutzigen Wände kaschieren wollten? »Schöner unsere Wohnhäuser! Mach mit!« Am Ende würden sie noch eine Goldene Hausnummer gewinnen.
    Er redete so lange auf Roswitha ein, bis sie nachgab. Auch Wladimirwar nach einigem Zögern einverstanden; die Angst um die Gesundheit seines Sohnes überwog. Sie rahmten die Bilder gemeinsam. Dann hefteten sie ein selbst gemaltes Plakat an die Haustür, das alle Passanten zur Besichtigung einlud. Es war ein Erfolg. Schon nach zehn Minuten kamen die ersten Besucher.
    Drei Stunden hingen die Bilder im Treppenhaus, dann klingelte der Abschnittsbevollmächtigte. Er war vom Treppensteigen noch völlig außer Atem und schwitzte.
    »Bürgerin, wer hat Ihnen gestattet, diese Fotos ins Treppenhaus zu hängen?«
    Roswitha sah ihn bestürzt an. »Aber Genosse, ist es denn verboten, das Haus zu verschönern? Haben Sie noch nichts vom ›Mach mit-Wettbewerb‹ gehört?«
    »Doch, schon!«, sagte der ABV und wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. »Aber doch nicht mit Fotos von Taubenkacke!«
    »Es ist Volkskunstschaffen!«, rief Roswitha empört.
    Der ABV öffnete den Mund, ob er nach Luft oder nach Worten rang, war nicht zu deuten. Wortlos drehte er sich um und stieg schnaufend die Treppe wieder hinunter.
    Sie lachten noch den ganzen Abend darüber.
    Am nächsten Morgen waren alle Bilder verschwunden. Wütend fuhr Roswitha in die Hochschule und machte neue Abzüge.
    Sie war gern allein in der Dunkelkammer. Sie liebte den Moment, in dem die Schatten auf dem Papier Konturen annahmen. Sie verglich es immer mit einer Geburt. Dieses Mal schmerzte es sie: der lachende Wladimir beim Schuttwegräumen, beim Mörtelanrühren. Der kranke Oskar.
    Und dann war da noch der Film. Jene Negativrolle, die sie ausFrau Pulvers Wohnung gerettet und seit Jahren, versteckt zwischen Knöpfen, im Nähkasten aufbewahrt hatte. In der Einsamkeit der Dunkelkammer erwachten die Schuttberge zum Leben.
    In der Nacht hielten sie im Hausflur Wache und drückten bei jedem Geräusch auf den Lichtschalter.
    Roswitha saß mit Mick im Dunkeln auf den Treppenstufen.
    Er war schmal geworden. Sie spürte seine Unruhe. Sie schwiegen, und Roswitha dachte an Frau Pulver.
    »Erinnerst du dich noch an Rose Sunday?«, flüsterte er.
    »Jetzt heiße ich Kleinschmidt.«
    »Eben.«
    »Du bist doch nicht etwa eifersüchtig?«
    »Willst du ewig ein Lemming bleiben?«
    »Ich studiere an der Kunsthochschule!«
    »Und was ist das für eine Kunst, die du nachts bewachen

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