Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
Natur.«
Die Kinderklinik verfügte nur über zwei Ultraschallgeräte; so sehr Roswitha und Wladimir auch bettelten, sie bekamen den Termin für Oskars Untersuchung erst sechs Wochen später. Sie betrachteten täglich ihr Kind, hofften inbrünstig auf ein Zeichen der Besserung. Wer behauptet, er würde in solchen Momenten nicht beten, lügt.
Oskar war innerhalb von einer Nacht von einem fröhlichen, gesunden Kleinkind zu einem schwer kranken Patienten geworden. Er weinte viel, war appetitlos und blass und hatte innerhalb kurzer Zeit zwei Kilogramm abgenommen.
Wladimir beantragte Urlaub und blieb zu Hause, damit Roswitha wenigsten einige Stunden in die Hochschule gehen konnte. Nach drei Wochen traf Roswitha zufällig die Ärztin aus der Mütterberatung auf der Straße. Sie war von der Diagnose entsetzt und folgte Roswitha sofort in die Wohnung. Nachdem sie Oskar untersucht hatte, schwor sie ihnen, dass sie den Verdacht für unsinnig hielt. Viel beängstigender fand sie die Schwellung an Oskars Bein. Sie war die Erste, die es aussprach: Taubenzecken.
Sie behandelte Oskar mit einem Antibiotikum, und innerhalb weniger Tage wurde er wieder zu einem fröhlichen Kind.
Wladimir und Roswitha veranstalteten ein großes Fest und luden alle ein. Selbst Mick war dieses Mal gekommen und hatte Oskar, zum Entsetzen von Wladimir und Roswitha, eine Blechtrommel mitgebracht. Es war das erste Mal seit Frau Pulvers Trauerfeier, dass sich Roswitha und Mick sahen. Roswitha vermied es, ihm in die Augen zu sehen. Schämte sie sich vor ihm für das Leben, das sie jetzt führte?
Mick dagegen führte ein Leben auf Abruf. Sein Betrieb hatte ihm wegen seines Ausreiseantrages gekündigt. Er war in die Stadt zurückgekehrt, arbeitete in einer privaten Kneipe als Hilfskochund wartete seit zwei Jahren vergeblich auf seine Entlassung aus dem ungeliebten Land.
Sie hatten während der Feier kaum Zeit gehabt, miteinander zu reden. Doch dann, als Roswitha schmutziges Geschirr in die Küche brachte, hatte Mick plötzlich vor ihr gestanden.
»Was willst du noch hier?«, fragte er.
»Wohin soll ich denn gehen?«
Mick lachte: »Zum Beispiel mit mir nach Amerika!«
»Und meine Familie?«
»Dann nimmst du eben deinen Lenin mit.«
»Das ist doch alles Spinnerei!«, sagte Roswitha. »Ich habe ganz andere Probleme!«
Er wurde plötzlich ernst. »Und du meinst, du kannst sie in diesem Land lösen?
»Wieso nicht?«
Sie musste sich selbst Mut zusprechen. Zwar reinigten sie die gesamte Wohnung mit Desinfektionsmitteln, beseitigten den Filz unter den Bastmatten und jagten jedem schwarzen Punkt hinterher, den sie an der Wand sahen. Doch sie wussten, auch wenn sie noch so winzig aussahen, die Taubenzecken waren Zeitbomben. So schrecklich der Gedanke schien, dass sie ihr »Traumschloss« verlieren würden, so klar war auch die Gewissheit, dass sie ausziehen mussten. Aber wohin? Die Kinderärztin hatte Mut bewiesen und ihnen mit einem Attest den Taubenzeckenbiss bescheinigt. Das Gesundheitsamt berief sich jedoch auf die Diagnose der Kinderklinik, und im Wohnungsamt ernteten sie nur ein müdes Lächeln und den Hinweis, dass sie sich ansehen sollten, wie andere wohnten. »Machen Sie sich wegen so ein paar Käfern nicht ins Hemd!«
Es war ein Teufelskreis. Ohnmächtig standen sie der Macht der Ämter gegenüber.
Roswitha entzog sich der Magie der Munch-Bilder und flüchtete in die Fotografieabteilung.
Es war ein völliger Kontrast, denn die Fotos der Sonderausstellung waren sehr artifiziell. Eines zeigte einen Blumentopf, der neben einen aufgestützten Männerarm stand, ein anderes ein Hochhaus, vor dem ein Auto auf einer Wiese parkte. Es gelang ihr nicht, die Bilder unbefangen zu betrachten. Es hatte an der Hochschule immer Streit um diese Art der Fotografie gegeben, die einige Dozenten mit dem Begriff »Fototapete« abtaten. Roswitha selbst fotografierte lieber Menschen oder Dinge, Fotos, die neben ihrer künstlerischen auch eine inhaltliche Aussage hatten. Alle anderen Motive hätte sie den Malern überlassen. Doch es gab auch Ausnahmen. Sie erinnerte sich an eine Man-Ray-Ausstellung vor ihrem Studienbeginn an der Hochschule. Es waren faszinierende Fotos, und jahrelang hatte das Ausstellungsplakat an der Wand über ihrem Schreibtisch geklebt. Zum Missfallen von Wladimir, der nicht einsehen wollte, warum er ständig auf einen nackten Hintern gucken musste, unter dem Hände lagen.
Bei Man Ray bewies sich, dass Kunst nicht so einfach herzustellen war, wie
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