Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
musst?«
»An der Hochschule gibt es keine Tabus.«
»Weil ihr unter einer Glasglocke lebt!«
»Und was soll ich deiner Meinung nach tun? Wir können nicht alle weglaufen!«
»Warum nicht?«
Sie schwiegen wieder.
»Ich wollte dir etwas geben«, sagte Mick. Es raschelte, und Roswitha sah schemenhaft, wie er etwas aus seiner Tasche zog. Es war ein flaches Päckchen. Roswitha fühlte das Geschirrhandtuch.
In diesem Moment betrat jemand den Hausflur, und Mick sprintete zum Lichtschalter.
»Der Letzte macht das Licht aus!«, rief Mick.
Zwei Tage später steckte ein Brief vom Wohnungsamt im Kasten. Es war ein Sieg, über den sie sich nicht freuen konnten. Wehmütig verließen sie ihr »Traumschloss« und zogen zwei Straßen weiter in eine Erdgeschosswohnung. Mick half noch beim Möbeltragen. Dann war er wieder abgetaucht.
Wladimir war seit dem Umzug schweigsam geworden. Er war noch nie ein großer Redner gewesen, aber er wirkte bedrückt und abwesend. Dann wieder war er unruhig und konnte sich auf nichts konzentrieren. Nur wenn er Oskar auf dem Arm hielt, schien er zufrieden. Wie vorher Mick umgab sich auch Wladimir mit einem Kokon. Aber es war anders, denn Roswitha sah keinen Anlass für Wladimirs Verhalten. Wenn sie versuchte, mit ihm zu reden, reagierte er hilflos. Seit der Aufregung wegen Oskars Zeckenbiss litt er wieder unter Bluthochdruck. Seine Ärztin hatte ihm Tabletten verschrieben, die er akribisch nahm. Roswitha hoffte, dass Wladimirs Verhalten vielleicht damit zusammenhängen könnte, und schickte ihn noch einmal in die Poliklinik. Doch die Ärztin sah keinen Grund zur Sorge und hatte Wladimir nur spöttisch gefragt, »ob vielleicht seine Frau ein Problem mit ihm habe«.
Wladimirs Zustand verschlechterte sich. Er hatte fast immer Kopfschmerzen, war mürrisch, und er vergaß, Dinge zu erledigen: Einkäufe, Verabredungen, auch Oskar aus der Kinderkrippe abzuholen. Seine Vergesslichkeit gipfelte darin, dass er Oskar im Kinderwagen vor dem Bäckerladen stehen ließ und nur mit dem gekauften Brot nach Hause kam. Als er Roswitha mehrere Monate zu früh zum Hochzeitstag gratulierte, wusste sie sich keinen Rat mehr und ging selbst in die Sprechstunde von Wladimirs Ärztin. Dort wurde sie mit der Bemerkung »Welcher Mannmerkt sich schon seinen Hochzeitstermin!« abgekanzelt und wieder nach Hause geschickt.
Einzige Hilfe war die Kinderärztin, an die sich Roswitha in ihrer Verzweiflung wandte. Sie fand in Wladimirs Krankenakte den empörenden Satz: »Frau will Mann loswerden!« Die Kinderärztin riet Roswitha zu einem Beratungsgespräch mit einer Psychologin. Die Termine in der Ambulanz waren lange im Voraus ausgebucht, und Roswitha musste mehrere Stunden im Wartezimmer sitzen, bis sie endlich vorgelassen wurde. Schon während der langen Wartezeit, beim Überlegen, welche Dinge sie der Ärztin erzählen sollte, war Roswitha Wladimirs Zustand ausgesprochen beängstigend vorgekommen, und als sie endlich aufgerufen wurde, kamen ihr bei den ersten Worten die Tränen. Es endete damit, dass die Ärztin Roswitha Beruhigungstabletten verschrieb.
Wladimirs Verwirrtheit nahm zu. An manchen Tagen kam er erst spät nach Hause und konnte nicht sagen, wo er gewesen war.
Eines Abends wartete Roswitha vergeblich. Verzweifelt ging sie am anderen Morgen auf das nächstgelegene Polizeirevier. Doch der diensthabende Polizist sagte: »Wenn wir bei jedem Mann, der nachts nicht zu Hause schläft, eine Vermisstenmeldung schreiben würden, gäbe es kein Papier mehr im Land.«
Es blieb Roswitha nur zu warten. Wladimir kam gegen Mittag. Seine Sachen waren schmutzig, die Hosen zerrissen, und sein linkes Bein blutete. Er wirkte hilflos wie ein Kind. Erst nach mehrmaligem Nachfragen erinnerte er sich, dass ihn ein Hund gebissen hatte.
Die Kinderärztin sah es als eine Chance und bot an – auch wenn die Diagnose eher unwahrscheinlich war –, Wladimir wegenTollwutverdacht in ein Krankenhaus einzuweisen. Wäre er erst einmal in einer Klinik, würden die Ärzte auch die Ursache seines merkwürdigen Verhaltens finden. Doch die Hoffnung, dass ihm geholfen würde, erfüllte sich nicht. Kein Arzt auf der Tollwutstation interessierte sich für Wladimirs Gedächtnisverlust. Er wurde mit Spritzen behandelt und war ansonsten sich selbst überlassen. Während der Besuchszeiten wirkte er ruhiger als sonst, sein Blutdruck hatte sich normalisiert, und er brauchte keine Tabletten mehr. Nach einer Woche stand er plötzlich vor der Wohnungstür und
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