Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
sagte, dass er Sehnsucht hätte und nicht wieder zurück ins Krankenhaus wolle. Sie saßen in der Küche, tranken Tee und überlegten, was sie tun sollten.
Was dann folgte, kannte Roswitha bis dahin nur aus dem Kino. Zuerst klingelten zwei Polizisten und wollten Wladimir zurück auf die Tollwutstation bringen. Als er sich wehrte, ließen sie von ihm ab. Wahrscheinlich hatten sie Angst, sich mit Tollwut anzustecken. Sie gingen zurück auf die Straße zu ihrem Auto und telefonierten über Funk. Kurz darauf hielt ein Krankenwagen, und zwei kräftige Pfleger standen in der Tür. Ohne Vorankündigung gaben sie Wladimir eine Spritze, zogen ihm ein weißes Jüpchen an und verschnürten die langen Ärmel. Benommen taumelte der gefesselte Wladimir durch den Hausflur. Als ihn die Pfleger in das Auto zogen, schleiften seine Beine über den Boden.
In der Kunstausstellung war es still geworden. Als Roswitha ins Treppenhaus trat, ahnte sie, warum; nur noch wenige Besucher waren im Haus. Ein Unwetter nahte. Durch die Glasfassade konnte sie den Himmel sehen. Die Wolken hingen so tief, dass sie die Spitzen der Hochhäuser verhüllten. Im gegenüberliegenden Gebäude saßen Menschen, versunken in ihre Arbeit, anSchreibtischen. War es Wirklichkeit, oder gehörte es zu einer Inszenierung für die Museumsbesucher? Unten im Skulpturengarten standen drei leere Drahtstühle, und Roswitha fragte sich, ob vielleicht auch das eine Installation war?
Alles war Kunst, auch die Fassaden der angrenzenden Häuser. Niedrige Häuser quetschten sich an hohe, schmale an breite, ein Wirrwarr der Baustile, die von der Anmutung einer Kathedrale bis hin zur Konservenfabrik reichten. Es war ein Kleingarten, der bepflanzt worden war wie ein zwei Hektar großes Feld. Alles wuchs ineinander und strebte zum Licht. Ein Eckhaus mit Glockentürmchen klebte an einem Handelskontor, aus einer Fabrik trieb die Fassade eines russischen Staatstheaters. Verwinkelte Kabelschächte zogen sich über mehrere Häuser, und aus den Dächern sprossen Schornsteine. Es dampfte aus allen Löchern. Roswitha stand auf dem Treppenpodest und lehnte am Geländer wie an einer Reling. Und sie dachte: Manhattan ist ein Schiff und all diese Häuser die Decksaufbauten. Mit rauchenden Schornsteinen trieben sie einem unbekannten Ziel entgegen.
Die Psychiatrische Klinik, in die Wladimir gebracht worden war, lag außerhalb der Stadt. Wahrscheinlich sollte das Volk vor dem Anblick der Verrückten geschützt werden. Was wir nicht sehen, berührt uns nicht. Die »Klapsmühle« war ein großer Backsteinbau mit verzweigten Gängen. Lange irrte Roswitha durch das Haus, bis sie die Aufnahmestation fand. Sie dachte, dass es für Verrückte schwer sein musste, sich in diesem Gebäude zurechtzufinden. Von niemanden beachtet stand sie auf dem Gang und war froh, als endlich ein Pfleger kam und fragte, ob er ihr helfen könne. Er brachte sie in Wladimirs Zimmer. Als sie die Tür öffnete, flüchtete ein Mann unter sein Bettgestell. Sein Zittern übertrugsich auf den Metallrahmen. »Keine Sorge«, sagte der Pfleger, »das ist Bernd, der hat einfach nur Angst.«
Wladimir lag völlig bekleidet auf seinem Bett und trug noch seine derben Winterschuhe. »Sie haben ihn angeschnallt«, flüsterte der Pfleger, »aber jetzt ist er ruhig.« Der Pfleger kicherte und zog eine Grimasse. Roswitha stutzte. »Wer sind Sie eigentlich?«
»Ich wohne hier!«, sagte er. Und legte sich auf ein leeres Bett.
Wladimir guckte Roswitha aus glasigen Augen an. Sie war nicht sicher, ob er sie erkannte. Er öffnete den Mund, zwischen den verklebten, trockenen Lippen spannte sich ein Speichelfaden. Sie fühlte, dass er ihr etwas sagen wollte, aber er schloss den Mund wieder. Sie setzte sich auf die Bettkante neben die Metallstrebe mit dem Gurt zum Anschnallen. Roswitha strich Wladimir über das Gesicht und spürte, wie er seine Wange gegen ihre Hand drückte. Eine Zeit lang saßen sie so. Dann war er eingeschlafen. Sie stellte eine Flasche Apfelsaft auf seinen Nachtschrank und machte sich auf die Suche nach einem Arzt oder Pfleger. Sie sprach einen Mann im weißen Kittel an, aber auch das war ein Patient, der gerade das Abendbrot vorbereitete. Nach langem Umherirren fand sie endlich den Pfleger. Er saß zusammen mit einer Gruppe Patienten vor dem Fernseher im Aufenthaltsraum. Es war ein junger Mann, der sich merkwürdig schlaksig bewegte und ständig hüstelte. Und Roswitha fürchtete, sich schon wieder getäuscht zu haben. Doch der
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