Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Titel: Wenn die Wale an Land gehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Aehnlich
Vom Netzwerk:
Pfleger hatte tatsächlich den Schlüssel zu Wladimirs Spind und half ihr, die Sachen einzuräumen. Er begutachtete die Bücher, die sie Wladimir mitgebracht hatte, und zeigte besonders für Aitmatows »Der Weiße Dampfer« Interesse. »Ein interessantes Buch, aber ich bin nicht sicher, ob es Ihr Mann zurzeit lesen kann.«
    Sie wollte wissen, was mit Wladimir geschehen würde. DerPfleger zuckte mit den Achseln »Das müssen sie die Ärztin fragen!« Doch die hatte keine Sprechzeit mehr und war nach Hause gegangen.
    Am nächsten Tag fuhr Roswitha am zeitigen Nachmittag zu Wladimir. Er hatte noch immer einen glasigen Blick. Sein Gesicht wirkte dunkel, weil er sich mehrere Tage nicht rasiert hatte. Roswitha suchte nach der behandelnden Ärztin und musste über eine Stunde warten, bis sie vorgelassen wurde. Das Zimmer der Ärztin war klein und vollgestellt mit Regalen, über den ganzen Schreibtisch verteilt lagen Akten. Die Ärztin, eine kleine Frau, mit dunklen, straff nach hinten gebundenen Haaren, war freundlich, aber fühlbar distanziert.
    Es gab keine Diagnose, oder besser: die Diagnose hieß: abwarten.
    Auch hier wurde Roswitha unterstellt, dass sie Eheprobleme hätten und Wladimir sich mit der Familiensituation überfordert fühle.
    Am nächsten Tag brachte sie Oskar mit, weil sie niemanden gefunden hatte, der auf ihn aufpasste. Wladimir versuchte zu lächeln, als er Oskar sah. Und Oskar kreischte und zog an Wladimirs wachsendem Bart. Roswitha kam jeden Tag. Es war ein weiter Weg, zweimal musste sie umsteigen, erst in eine andere Straßenbahn, dann in einen Bus, der nur alle zwanzig Minuten fuhr. Es war nasskaltes Novemberwetter, und schon nach einer Woche war sie stark erkältet. Aber was war ein Schnupfen gegen Wladimirs Krankheit?! Die Ärztin fühlte sich zunehmend genervt, wenn Roswitha bei ihr auftauchte. Es gab verschiedene Diagnosen: Epilepsie, Neurose, Psychose, Hirnhautentzündung. Bei jeder Sprechstunde bekam sie eine andere Krankheit präsentiert. Wladimir lag noch immer teilnahmslos in seinem Bett aufder Wachstation, und Roswitha fragte, ob sie ihn an den Wochenenden nach Hause holen könne.
    »Wollen Sie sich das wirklich antun?«, fragte die Ärztin und genehmigte einen Wochenendurlaub bis Sonntagabend. »Wenn Sie es nicht aushalten, können Sie ihn früher zurückbringen.«
    Als Roswitha Wladimir abholte, gab ihr der Pfleger eine Plastetüte mit Tabletten: große blaue, ovale gelbe, runde weiße. Sie bekam einen Zettel mit den Verordnungsanweisungen. Die meisten Mittel dienten der Ruhigstellung. Wladimir war gleichzeitig apathisch und unruhig. Kaum lag er im Bett, stand er wieder auf, um sich ins Wohnzimmer zu setzen. Dort saß er dann regungslos im Sessel, bis es ihn wieder ins Schlafzimmer trieb. Roswitha konnte während der ersten Nacht nicht schlafen. Sie hörte auf jedes Geräusch, auf Wladimirs Atem, auf Oskars Atem. Vorsichtshalber ging sie jedes Mal hinterher, wenn Wladimir aufstand.
    Als sie ihn am Sonntagabend zurück auf die Station brachte, fragte die Ärztin, die zufällig Abenddienst hatte, bei der Übergabe. »Na, überstanden?«
    »Er war sehr unruhig«, sagte Roswitha.
    »Sie wollten mir nicht glauben«, sagte der Ärztin.
    Am nächsten Wochenende waren noch mehr Tabletten in der Plastetüte. Wladimir hatte starre Pupillen. Er stierte vor sich hin und schien nichts wahrzunehmen, was um ihn herum passierte. Seine Stirn war ständig mit kaltem Schweiß bedeckt, und er sabberte. Wenn er am Wochenende zu Hause war, ging sie mit ihm und Oskar spazieren, um ihm möglichst ein normales Leben zu bieten. Er hielt sich beim Laufen am Kinderwagengriff fest, wie ein Kleinkind, das neben seiner Mutter lief. Die Adventszeit begann. Alle Schaufenster waren dekoriert, überall brannten Lichterketten, in den Läden roch es nach Tannenduft und Räucherkerzen.»Oh, du fröhliche!« Die gesamte Stadt war mit freudiger Geschäftigkeit erfüllt. Je näher Heiligabend rückte, desto trauriger wurde Roswitha. Es kostete sie viel Kraft, diesen ganzen Weihnachtsrummel zu ertragen.
    Kurz vor dem zweiten Adventswochenende sagte die Ärztin, das alles darauf hindeute, dass Wladimir einen Gehirntumor habe. Es sei eine Tomografieuntersuchung geplant, aber es gebe nur ein einziges Gerät für alle Patienten der Stadt und dadurch sehr lange Wartezeiten. Man müsse mit einer Zeitspanne zwischen sechs Wochen und zwei Monaten rechnen.
    Wladimir hatte abgenommen. Roswitha kaufte ihm Gürtel, damit seine Hosen nicht

Weitere Kostenlose Bücher