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Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Titel: Wenn die Wale an Land gehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Aehnlich
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rutschten. Sie schenkte dem Pfleger das Aitmatow-Buch und bat ihn, auf Wladimir achtzugeben.
    Abends, wenn sie aus dem Krankenhaus zurückkam, holte sie Oskar von der Nachbarin oder von einer Freundin und brachte ihn ins Bett. Sie badete ihn, roch seine Haut. Er war warm und weich. Wenn sie die Kraft aufbrachte, sang sie ihm ein Schlaflied. Manchmal dachte sie, dass es besser wäre, wenn Oskar nicht geboren wäre, aber dann lachte er sie an, und sie schämte sich zutiefst für ihren Gedanken und leistete Abbitte. Abends, wenn er schlief, saß sie allein im Wohnzimmer. Sie hatte nicht einmal Lust darauf, sich zu betrinken. Die einzige Droge, die sie sich leistete, war Musik. Sie hörte Janis, immer wieder Janis. Sie begriff, wie viel Schmerz in dieser Stimme lag, wie viel Verletzbarkeit. Sex, Drugs & Rock’n’Roll waren nur Fassade. Dahinter lag eine tiefe Traurigkeit. Roswitha wünschte sich, alles herausschreien zu können.
    Manchmal hörte sie die Cellosuiten von Bach und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Sie war die Note auf der Straße, dievorwärts gehen musste. Doch wohin? Was war aus »unserer Zukunft« geworden?
    Es waren die kleinen Dinge, die sie erschreckten. Bei jedem Buch, das sie in die Hand nahm, dachte sie daran, dass es Wladimir vielleicht niemals mehr lesen könnte. Und plötzlich fielen ihr all ihre eigenen »offenen Rechnungen« ein. Nie hatte sie »Ulysses« von James Joyce zu Ende gelesen und auch nicht »Der Mann ohne Eigenschaften« von Musil. Sie war noch nie bei den Jazztagen in Peitz gewesen, sie hätte gern Budapest gesehen und Prag. Warum hatte sie nie ein Instrument gelernt? Sie wünschte sich, dass sie all ihre Schallplatten-Helden, die noch am Leben waren, in einem Konzert sehen könnte: die Leibhaftige, Al Di Meola, die Rolling Stones. Sie stellte sich vor, wie es wäre, wenn der »große Mick« in ihre Stadt käme. Diese Fantasien waren die glücklichsten Momente am Tag. Roswitha verdrängte damit die eigentliche Frage. Was würde werden, wenn Wladimir starb?
    Kurz vor Weihnachten war Roswitha, auf Empfehlung der Hochschule, zu einem Empfang für junge künstlerische Talente geladen worden. Sie hatte das Gefühl, dass hier die Schäfchen gezählt werden sollten. Doch das war egal, denn sie plante, das Treffen in eigener Mission zu nutzen. Es fand in einer Villa statt, die sonst als Gästehaus für den Staatsrat diente. Walter Ulbricht habe hier früher bei seinen Besuchen übernachtet, hieß es.
    Schon allein die Eingangshalle war monströs; keine Spur von sozialistischer Bescheidenheit, wie es sich vielleicht für einen Arbeiter- und Bauern-Staat gehört hätte. Schade, dass sie das Bett nicht sehen konnte, in dem Ulbricht geschlafen hatte; wahrscheinlich war es ein Himmelbett gewesen.
    Das Buffet stand in einem hohen, holzgetäfelten Saal. Das Publikumwar eine lustige Mischung. Die Genossen in Parteigrau und im Kontrast dazu eine bunte Schar »Kulturschaffender«, von denen viele wie Tramper aussahen, die man vom Straßenrand weggefangen hatte. Die Tramper ertrugen sichtlich gelangweilt die Reden der Kulturfunktionäre, »Ihr seid die Kampfreserve der Partei«, und fixierten dabei das Buffet. Die Tafel war üppig gefüllt, mit Dingen, die es meist nur unter dem Ladentisch gab. Lachsschinken, Salami, gebratene Schweinelendchen, Schinkenröllchen mit Spargelspitzen, Eihälften mit Kaviar. Roswitha bereitete das Buffet eher Pein, denn sie hatte schon seit Wochen keinen Appetit mehr und verspürte schon beim Anblick von Essen Übelkeit. Ihr Ziel waren die Getränke, und sie fixierte die Gläser mit dem Rotkäppchen-Sekt. Zügig trank sie das erste Glas, das zweite Glas, als sie nach dem dritten griff, zollten ihr zwei Musiker Beifall. Was die Musiker nicht wussten, Roswitha trank nicht aus Genuss, sie trank sich Mut an. Als alle in Sektlaune waren, wagte sie sich vor. Sie stellte sich neben den obersten Bezirkskulturfunktionär, dessen Foto sie aus der Zeitung kannte, und als er sie ansah, fragte sie ihn, ob er »ihr einen Gefallen tun könne«. Er lächelte sie an, wahrscheinlich dachte er, es ginge um Geld für ein Projekt oder um eine Auslandsreise, und sagte gönnerhaft: »Aber ja doch, junge Frau!« Sie erzählte ihm, dass ihr Mann mit der Diagnose »Hirnturmor« im Krankenhaus läge und sie mehrere Wochen auf einen Termin für eine Tomografie warten müssten. Sie sagte dem Funktionär, dass es ihr einziger Weihnachtswunsch sei, endlich Gewissheit zu haben. Roswitha

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