Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Titel: Wenn die Wale an Land gehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Aehnlich
Vom Netzwerk:
konzentrierte sich darauf, nicht zu weinen, während sie sprach. Der Kulturfunktionär notierte sich ihren Namen, und da Roswitha keinen Telefonanschluss hatte, die Nummer der Hochschule. Er versprach, sich schnellstmöglichst zu melden. Am nächsten Tagwurde Roswitha ins Sekretariat gerufen; es gab einen Untersuchungstermin zwei Tage vor Weihnachten. Der Countdown lief. Roswitha war überraschend ruhig. Die Unsicherheit würde ein Ende haben.
    Am Mittag des Heiligabend fuhr sie in die Klinik, um Wladimir für eine Woche nach Hause zu holen. Der Gang zum Zimmer der Ärztin kam ihr vor wie der Weg zur Hinrichtung. Sie setzte sich auf ihre Hände, damit die Ärztin das Zittern nicht sah. Doch alle Aufregung war verfrüht, es gab noch keinen Befund. Die Ärztin wünschte ihr ein schönes Weihnachtsfest und überreichte Roswitha den Medikamentenbeutel mit dem üblichen Satz: »Falls Sie es nicht aushalten, können Sie Ihren Mann jederzeit wiederbringen.«
    Als sie Wladimirs Sachen in die Reisetasche packte, kam der Pfleger. Sie wünschte ihm ein frohes Weihnachtsfest und schenkte ihm Aitmatows »Der Tag zieht den Jahrhundertweg« und eine Flasche Rosenthaler Kadarka.
    »Ich habe auch ein Geschenk für Sie«, sagte der Pfleger. »Ich habe Ihren Mann zur Untersuchung begleitet. Es ist alles ohne Befund.«
    Roswitha wurde schwindelig, und sie musste sich am Spind festhalten. O. B., zwei Buchstaben. Egal, welche Diagnose jetzt kam, sie würden damit leben können.
    Es hatte Roswitha Überwindung gekostet, zu Hause alles vorzubereiten. Nun war sie glücklich darüber, dass sie den Baum geschmückt und die Pyramide aufgestellt hatte. Oskar war fasziniert von den Lichtern und den Schattenspielen an der Wand. Obwohl sich Roswitha vor allem Essbaren ekelte, hatte sie gekocht. Es gab Entenbraten mit Klößen und Rotkohl.
    Wladimir aß wenig, er war noch immer schwach, aber diegute Nachricht machte ihn heiterer. Es fiel ihm schwer zu sprechen, und es war ihm peinlich, dass ihm der Speichel aus dem Mund lief, aber Roswitha spürte, dass er an diesem Abend glücklich war.
    Es war ein friedlicher Heiligabend. Wladimir lag auf dem Sofa, Oskar kroch auf dem Fußboden herum und räumte seinen neuen Baukasten aus und ein. Roswitha saß im Sessel und merkte, dass ihr jede Bewegung schwerfiel. Sie hörten Bach und tranken Tee, und als Oskar im Bett lag, genehmigte sich Roswitha ein Glas Eierlikör. Die ehemaligen Kollegen aus dem Traktorenwerk hatten ihr, in Erinnerung an die alten Zeiten, zu Weihnachten eine Flasche geschickt. Sie hob ihr Glas auf den Produktionsdirektor, der seine Magenoperation gut überstanden hatte. Nach seiner Genesung war er in ein anderes Werk strafversetzt worden, und er hatte die Veränderung genutzt und sich von seiner Frau scheiden lassen. Manchmal schrieben die Kollegen noch eine Karte mit den Neuigkeiten aus dem Werk, und Roswitha schickte ihnen Fotos von Oskar zurück; der lachende Oskar an seinem ersten Geburtstag. Es waren Fotos aus einem anderen Leben. Sie streifte ihre Leben ab wie Zwiebelhäute, und sie hoffte, dass die Haut, in der sie sich jetzt befand, bald von ihr abfallen würde.
    Voller Optimismus brachte sie Wladimir am Neujahrstag zurück in die Klinik. Der Pfleger sagte ihr, dass sie zur Ärztin kommen sollte. In freudiger Erwartung auf eine gute Nachricht setzte sich Roswitha auf den Stuhl neben dem Schreibtisch.
    Die Ärztin nahm einen Stapel Papier. Die Bögen hingen an den Falzrändern aneinander. Sie schob Blatt für Blatt nach oben, las schweigend den Befund und sagte: »Es sieht nicht gut aus für Ihren Mann!«
    Roswitha erstarrte.
    »Es ist zwar kein Tumor, doch eine Entzündung hat die Großhirnrinde zerstört!«
    »Aber …«, sagte Roswitha.
    »Das ist irreversibel.«
    »Aber es ging ihm gut zu Hause.«
    »Das können Sie nicht einschätzen! Sein Zustand wird sich weiter verschlechtern.«
    »Kann er nach Hause?«
    »Bei Ihrer kleinen Wohnung und mit einem Kleinkind kann ich das nicht verantworten.«
    »Und wenn ich eine größere Wohnung hätte?«
    »Woher wollen Sie die bekommen?«
    »Vielleicht könnten Sie ihm ein Attest schreiben, und ich könnte es beim Wohnungsamt versuchen?«
    »Wir werden einen Platz im Pflegeheim ›Rosa Luxemburg‹ beantragen. Sie können ihn an den Wochenenden nach Hause holen.« Die Ärztin sah Roswitha an: »Wenn Sie es aushalten.«

9
    ES BEGANN ZU SCHNEIEN , dicke Flocken, die wie Wattebäusche vom Himmel fielen und die innerhalb weniger Minuten den

Weitere Kostenlose Bücher