Wenn du lügst
gewisse Weise war es schon eine Lüge gewesen. Ich hätte es ihr früher sagen können, hätte es aber auf jeden Fall noch getan.
»Es tut mir leid. Ich konnte nicht ahnen, dass er zu Hause ist. Ich bin davon ausgegangen, dass er in der Arbeit sein würde, und wenn jemand da wäre, dann du.«
Sie gab keine Antwort. »Schaff wenigstens Lily von ihm fort. Tu es für sie, wenn du es schon nicht für dich selbst tun kannst.«
Sie sah nun hoch, schien es sich durch den Kopf gehen zu lassen. »In Ordnung«, sagte sie dann. Ihre Stimme klang flach und erschöpft, mehr resigniert als alles andere. Falls das die Freiheit sein sollte, waren die Vorteile für sie noch nicht erkennbar. Was würde geschehen, wenn sie aus dieser Benommenheit erwachte? Würde es wie bei einer Erfrierung sein, wo alles taub ist, bis
man es auftaut? Und der Schmerz dann so schlimm wird, dass man nicht mehr denken kann? Würde sie anfangen zu weinen und nie wieder aufhören?
»Meinst du das ernst?«, fragte ich. »Können wir Lily holen und abhauen?«
»Ich meine es ernst«, sagte sie, aber ihre Stimme klang nicht danach. Ihr Gesicht war leer und ausdruckslos, so als wäre dies bloß eine weitere Tortur, die sie durchstehen musste. Ich bemühte mich, nicht zu viel hineinzudeuten. Es war eine zu große Sache, um die ich sie bat, als dass ich in diesem Moment eine normale Reaktion erwarten durfte. Sie würde rein mechanisch tun, was man ihr sagte.
»Okay«, sagte ich. »Wo ist Lily?«
»In der Schule.«
»Wann hat sie aus?«
Sie sagte es mir. Ich sah auf die Uhr. Uns blieben zwanzig Minuten, um dorthin zu gelangen, bevor sie sich auf den Heimweg machen würde.
Während wir zur Schule fuhren, rief ich Dave an. Er versprach, dafür zu sorgen, dass am Flugschalter zwei Tickets auf uns warten würden, drei, falls er sie nicht auf die Maschine bekam, auf die ich bereits gebucht war. Ich bot ihm meine Kreditkarte an, aber er sagte, wir würden später abrechnen, und ich hatte das Gefühl, dass ich nie eine Rechnung bekommen würde. Er klang überglücklich und viel zu zuversichtlich für mein Empfinden - ich selbst wartete noch immer darauf, dass Jena ihre Meinung ändern würde. Allerdings strahlte sie etwas Entschiedenes aus, als wäre ihr Entschluss unumstößlich.
Wir erreichten die Schule kurz bevor die Schulglocke klingelte. Wir warteten, bis Lily herauskam, eine hoch aufgeschossene, dunkelhaarige Jugendliche mit Jenas Mund und Augen und dem Körperbau von jemand anders. Lily war größer als ihre Mutter und hatte einen breiteren Knochenbau. Sie hatte die Schultern einer Schwimmerin, jedoch eine pummelige Taille, was darauf schließen ließ, dass sie weder schwamm noch sonst irgendwelchen Sport trieb. Sie hatte grüne Strähnen in ihrem kurz geschnittenen, dunklen Haar, und einen Arm zierten von oben bis unten runde Metallbänder. Der Blick, mit dem sie ihre Mutter bedachte, war komplex: feindlich und besorgt und verächtlich gleichzeitig. Alles andere als froh, sie zu sehen. Als ich mich vorstellte, weiteten sich ihre Augen, und sie sah zu ihrer Mutter, um festzustellen, ob sie von dem Anruf wusste. Ich wollte jetzt keine Erklärungen abgeben, deshalb schob ich sie schnell ins Auto und fuhr los.
»Wohin fahren wir?«, fragte Lily.
Ich wartete, aber Jena sagte nichts. Seit Lily im Auto saß, wirkte sie, als ob sie ihr letztes Quäntchen Energie verbraucht hätte und wieder zu der Frau verblasst wäre, die ich an dem Schreibtisch vorgefunden hatte. Sie starrte aus dem Fenster, als wäre Lily gar nicht da.
»Wir verreisen«, erklärte ich. »Wir sind auf dem Weg zum Flughafen.«
»Wir verreisen? Für wie lange?«
»Ich weiß es nicht«, sagte ich vorsichtig. »Ihr müsst im Moment von Jerry weg. Er tut euch beiden nicht gut. Ich weiß nicht, wann ihr zurückkehren könnt.« Wahrscheinlich nie, dachte ich.
»Was ist mit meinen Klamotten?«, fragte sie. »Was ist mit meinen Freunden?«
»Wir werden dir neue Sachen kaufen.«
»Und was ist mit meinen Freunden?«, wiederholte sie. »Ich kann nicht weg von meinen Freunden. Mit wem soll ich reden?«
Ihre Reaktion überraschte mich. Hatte sie auch nur die leiseste Ahnung, was hier auf dem Spiel stand? Eine Woge des Zorns rollte über mich hinweg wie ein Nachmittagsgewitter. Konnte dies die Tochter sein, die so besorgt um ihre Mutter war, dass sie mich mitten in der Nacht angerufen und am Telefon geweint hatte? Ich versuchte, den Zorn abzuschütteln. War ich wegen dieser Sache so angespannt,
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