Wenn du lügst
sogenannten Witwengänge im dritten Stock aufmerksam, wo einst die Frauen gewacht und nach den Schiffen ihrer Männer Ausschau gehalten haben sollen. Ich fuhr die Hauptstraße hinunter, und wir beobachteten die Wildpferde auf Carrot Island, das kaum mehr als einen Steinwurf vom Hafendock entfernt ist. Beaufort war heute in Bestform - pulsierende Lichtpunkte tanzten auf dem »Kanal«, jener schmalen Wasserstraße, die zwischen Beaufort und seiner vorgelagerten Insel dahinströmt.
Eine Vielzahl von Segelbooten jeder Größe und Form lag in dem Kanal vor Anker. Ich kann nicht behaupten, dass Lilys Reaktion überwältigend gewesen wäre, aber wenigstens sah sie aus dem Fenster, was wahrscheinlich schon etwas war.
Wir traten den Heimweg an, indem wir in östlicher Richtung hinunter zur Cedar-Island-Fähre fuhren, die
uns nach Blackbeard’s Isle bringen würde. Ich machte dabei einen Umweg, um ein Stück weit an der Binnenwasserstraße entlangzufahren. Riesige, mit bis zum Boden reichendem Louisianamoos behangene Eichen spannten sich darüber. Wären wir eine Weile geblieben, hätten wir durchaus ein paar Wasserschlangen zu Gesicht bekommen können, die hier beheimatet waren. Warum auch nicht? Sogar Alligatoren durchstreiften noch immer die versteckt gelegenen Buchten. Ich bot an, anzuhalten und auf Erkundungstour zu gehen. Lily sagte, sie würde im Auto bleiben, wenn ich das täte.
Sie guckte mittlerweile schon so lange in ihre Zeitschrift, dass sie sie auswendig kennen musste, und ihr ständiges Gefummel am Radio ging mir langsam auf die Nerven. Wir diskutierten ständig wegen der Lautstärke. Country war die Nummer eins im Südstaaten-Radio, was Lily zu überraschen schien. In ihrer Welt existierte Countrymusic nur als Gerücht - wenn man von Faith Hill absah. Anscheinend war sie eine Ausnahme, wobei ich nicht wusste, warum.
Enttäuscht stellte ich fest, dass Betsy nicht zu Hause war. Ich musste mit jemand über vierzehn reden. Aber da ließ sich nichts machen, deshalb schlüpfte ich in meine abgeschnittenen Jeans, und wir machten uns auf den Weg zur Fähre. Lily wirkte kein bisschen neugierig hinsichtlich Betsys Haus oder meines Kleiderwechsel-Rituals. Sie hatte mich um mein Handy gebeten, um ihre Freunde anzurufen. Ich wusste nicht, was sie sagen würde, und wollte zuerst mit ihr darüber sprechen. Lily meinte, das ginge mich nichts an, also behielt ich das Handy. Ich spürte, dass eine Art Machtkampf zwischen
uns entbrannte, schien jedoch nichts dagegen tun zu können.
Lily blieb drinnen, während die Fähre übersetzte. Da die Fenster von der Gischt mit Salz überzogen waren und man kaum hinaussehen konnte, bekam sie nichts von Pamlico Sound mit. Ich stand am Heck der Fähre, beobachtete die Möwen, wie sie nach Futter tauchten, und grübelte darüber nach, worauf ich mich eingelassen hatte.
Nachdem wir Blackbeard’s Isle erreicht hatten, ließ ich sie hinter mir auf meinen Roller Platz nehmen, und wir fuhren zu mir nach Hause. Es schien, als würde Lily in dem Roller einen Pluspunkt sehen, allerdings wollte sie selbst fahren, was, wie ich ihr erklärte, genau genommen nicht legal war.
Ich lebe in einem alten, verwitterten Häuschen, das ich peu à peu umgestalte. Es hat Zederschindeln und eine weiße Holzfassade, und es passt auf die Insel. Welche Rolle spielt es schon, dass sich die Böden ein bisschen neigen und die Küche noch die originale sein könnte? Für mich hat es Charakter, und es ist gemütlich, außerdem thront davor Großmutter, die Lebenseiche, so breit wie ein bequemer Sessel. Lily würdigte den Baum keines Blickes, und ich konnte meine Kränkung nicht verbergen, als sie mein Haus musterte wie irgendeine schäbige Absteige. Sie verdrehte die Augen. »Das ist es?«
»Was meinst du?«
»Es ist ziemlich klapprig.«
»Eigentlich nicht. Es wurde in den Zwanzigern gebaut, und drinnen ist manches noch original erhalten.«
»In den Zwanzigern.« Wieder rollte sie mit den Augen. »Wie kann man bloß hier leben?«
Mir tat der Kopf weh, und ich begann mir selbst leidzutun. Ich war nach Chicago geflogen, um nach einer alten Freundin zu sehen, und jetzt war ich hier mit einem Alien in meinem Haus: einem klugscheißerischen, Junkfood liebenden, shoppingsüchtigen, mürrischen Teenager, der noch nicht mal den gottgegebenen Sinn für das Meer hatte. Ich mochte dieses Mädchen nicht, weshalb ich wiederum mich nicht mochte. Sie war schließlich Jenas Tochter und hatte mit ansehen müssen, wie ihre
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