Wenn du lügst
auch wenn Mandys Darstellung wahr geklungen hatte, war ich mit zu vielen Straftätern in Kontakt gekommen, um nicht gegenzuchecken, was man mir erzählte.
Es entstand eine längere Pause, dann meinte Pat: »Ich werde es Ihnen sagen, weil ich das unbestimmte Gefühl habe, dass sie versuchen wird, sich in den Fall einzumischen, sobald sie herausfindet, was vor sich geht. Sie fing damals an, auf eigene Faust zu ermitteln. Es wurde zur Besessenheit. Als wir die Akten von ihr zurückholen wollten, war ihr ganzes Wohnzimmer in eine Art Strategieraum verwandelt worden, mit Fotos von
Sissy, Polizeiakten, Hunderten von Notizen zu Vernehmungen, von denen wir nichts wussten. Das Ganze war ein Riesenschlamassel. Sie hatte einen Kommunalpolitiker derart schikaniert, dass der uns fast eine Klage angehängt hätte. Der Psychiater meinte, dass sie den Polizeidienst ganz quittieren sollte. Wir beschlossen, ihr noch eine letzte Chance zu geben.
Nicht alle waren damit einverstanden. Sie warten nur darauf, dass sie es vermasselt. Lassen Sie sie nicht mitmischen, okay? Diesmal kostet es sie den Job. Aber es geht um mehr als das. Falls Sie sie involvieren, wird sie ihr inneres Gleichgewicht verlieren und vermutlich wieder die alte Besessenheit entwickeln. Und glauben Sie mir, mit Obsessionen kenne ich mich aus. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie viele Stalker ich angeklagt habe. Es ist eine üble Sache. Abgesehen davon mag ich Mandy, ganz gleich, was sie denkt. Frauen haben es in der Strafverfolgung verflucht schwer. Mandy war eine gute Polizistin - ist eine gute Polizistin, wenn sie sich aus dieser Sache hier raushält.«
Ich dachte über das Bild von Mandy nach, das sich ergab: eine instabile Polizistin mit einer Obsession. Ich war gar nicht so falsch gelegen. Kugeln, die an Ohren vorbeizischen. Schlimmer noch, Kugeln, die an Lilys Ohren vorbeizischen.
kapitel 19
Lily hatte den Strand bisher nach Möglichkeit gemieden. Doch jetzt saß sie in der Klemme. Ihre Lehrerin, Mrs Carsons, hatte die vier Schüler ihrer Klasse aufgefordert, für ein wissenschaftliches Projekt Muscheln mitzubringen. Lily hatte Breeze halbherzig vorgeschlagen, sie in einem Souvenirladen zu kaufen. Breeze hatte gelacht, als hielte sie es für einen Witz.
Ich sollte es besser hinter mich bringen, dachte Lily. Es war eine blödsinnige Aufgabe, aber sie würde den Computer verlieren, wenn sich ihre Noten verschlechterten, und das durfte nicht passieren. Wie sollte sie mit ihrer Mutter kommunizieren, wenn sie nicht mehr an den Computer durfte? Die E-Mails ihrer Mom waren das Einzige, das zählte. Nur an sie zu denken, ließ Lily sich schon besser fühlen. Sie sollte zu Betsy ziehen, obwohl die nicht mal einen Computer hatte? Nicht im Traum.
Mandy hatte angeboten, sie an den Strand zu begleiten, und Lily hatte, bewaffnet mit einem Bild der Muscheln, die sie brauchte, zugestimmt. Vermutlich wussten die anderen Schüler alle, wie die Muscheln aussahen. Mrs Carson hatte das aber nicht gesagt, sondern einfach jedem ein Bild ausgehändigt. Sie war eigentlich gar nicht so übel.
Sie und Mandy gingen zusammen über den Strand. Der harte, nasse Sand ruckelte unter Lilys Füßen wie kaffeefarbene Götterspeise. Mandy hing jetzt schon seit ein paar Tagen in ihrer Nähe herum, und auch das war gar nicht so übel. Lily fing an, sich an sie zu gewöhnen. Zumindest redete sie mehr als Breeze, obwohl sie an Breeze inzwischen auch gar nicht mehr so viel störte. Seltsam, aber seit sie mit ihrer Mutter E-Mails austauschte, war sie nicht mehr so wütend auf Breeze.
Die Sonne schien selbst zu dieser Stunde so hell, dass sie direkt vor Lilys Füßen ein gelbes Band über den Sand warf. Vor ihr lag eine Ansammlung von Muscheln, die wie nachlässig verstreute Scherben zerbrochener Porzellanteller aussahen. Sie musterte sie prüfend auf der Suche nach den Helmschnecken, Scheidenmuscheln und Wellhornschnecken, die sie sammeln sollte.
Zu ihrer Linken rollten gleichmäßig die Wellen heran. Sie klingen wie ein endloses Herzklopfen, dachte sie. Ein bisschen wie das Atmen eines riesigen Tiers, und seltsamerweise bewirkte das Geräusch, dass sie sich insgesamt besser fühlte. Vielleicht war das der Grund, warum Breeze hier so viel Zeit verbrachte. Vielleicht hatte es bei ihr dieselbe Wirkung.
Der leichte Wind hob die Spitzen ihres Haars an, sie schmeckte das Salz auf ihren Lippen und dachte, dass es hier auf der Insel vielleicht doch gar nicht so übel war - es gab nicht genügend junge
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