Wenn du mich brauchst
befestigt war, mit den Fingerspitzen berührte, um sie anschließend an seine Lippen zu führen.
Ich musste schlucken. Das war eine jüdische Geste, das wusste ich von Rosies Freundin Jilliam, die ebenfalls Jüdin war. Sie hatte eine Mesusa, wie dieses kleine Kästchen hieß, geerbt und halb zum Spaß an ihre Apartmenttür genagelt. Allerdings innen statt außen und sie benutzte sie nicht im religiösen Sinn, sondern bewahrte dort, à la Rosie, ihre Cannabisvorräte auf.
»Ich hause im obersten Stock«, erklärte Gershon, deutete nach oben und nahm meine Hand. Ich war einen Tick nervös, es war das erste Mal, dass ich Hand in Hand mit einem Jungen irgendwohin ging. Und dann auch noch in sein Zimmer. Unterwegs erklärte mir Gershon, wer außer ihm und seinen Eltern und Brüdern noch in dem Haus wohnte. Er hatte, wie es schien, eine recht große Familie, dennoch wirkte das Haus an diesem Nachmittag wie ausgestorben.
Beim Hinaufgehen verstand ich, was Gershon mit seinem Es-ist-alles-nur-Schein-Satz gemeint hatte. Dieses Haus war zwar ein riesiger und beeindruckender Kasten, aber er hatte schon bessere Tage gesehen. Die Tapeten blätterten überall ab, der Fußboden war ausgetreten und zerkratzt, im Stuck an der Decke waren Sprünge.
»Dieser Kasten ist von heruntergekommener Pracht«, sagte Gershon, als wir endlich sein Zimmer erreichten. »Meine Eltern arbeiten am Orpheum-Theater. Kennst du es? Mein Dad ist Cellist und meine Mom Tänzerin. Das Orpheum-Theater ist ebenfalls von heruntergekommener Pracht. Kohlemäßig ist da nicht viel zu holen. Aber egal, wir hungern nicht.« Er lachte und öffnete seine Zimmertür.
Seine Eltern mochten Musiker sein, Gershon war eher Sportler, wie es schien. Er hatte seine Zimmerwände mit Fotos von sich behängt – mit seinem Mountainbike in den Bergen, beim Skilaufen auf einer steilen Piste, in Wanderausrüstung im Urwald, beim Floßfahren in schäumenden Stromschnellen, beim Freeclimbing in den Bergen. Ansonsten sah sein Zimmer ganz normal aus: CD-Spieler, PC, eine Playstation, ein kleiner, nicht mehr ganz neuer Fernseher, ein Bett auf einer Art selbst gezimmerter Empore, eine gebeugte, riesige Yuccapalme, ein Schreibtisch, ein aus Backsteinen selbst arrangiertes Bücherregal und ein Teleskop unter dem Fenster.
Ich war nervös, und das nicht nur wegen Old Niall und seinen vielen Nachrichten auf unserem Anrufbeantworter.
Kaum, dass wir uns gesetzt hatten, begannen meine Wale wieder zu singen. Rosie? Oder Moon, der von irgendwo abgeholt werden wollte? Seit ich das Auto der Greenbergs hatte, war ich zu Moons Frustchauffeur auf Abruf degradiert.
Natürlich konnte es auch Kendra sein, genervt von Plastikwelt oder Noelle, die sich bisher standhaft weigerte, ein kontraproduktiver Anarchist zu werden, und – laut Kendra – stattdessen heftig mit dem Gärtnergehilfen der Familie Flayderman herumflirtete.
»Sorry«, sagte ich entschuldigend zu Gershon und zog, wie schon auf der Fahrt hierher, mein Handy aus der Tasche. Ich warf einen prüfenden Blick auf die erleuchtete Anrufernummer und erschrak. Nicht Rosie. Nicht Moon. Nicht Kendra.
Es war ohne jeden Zweifel Old Nialls Nummer, die mir da entgegenflimmerte. Ich erkannte sie auf den ersten Blick, obwohl bei uns zu Hause immer nur sein gespeicherter Name aufblinkte, wenn er anrief. Noch nie hatte er mich auf meinem Handy angerufen. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass er diese Nummer überhaupt kannte.
»Hallo?«, sagte ich mit Herzklopfen, nachdem ich das Gespräch angenommen hatte.
»Sky?«, schrie Old Nialls Stimme aufgebracht. »Endlich. Gott sei Dank. Ich habe einen von euch erwischt.«
»Glaub mir, wir haben in der letzten Zeit dauernd versucht, dich zu erreichen, Grandpa«, verteidigte ich mich und den Rest der Familie Lovell hastig.
»Das würde ich jetzt auch behaupten«, schnaubte mein Urgroßvater, aber ich hörte, dass er mir im Grunde seines Herzens doch glaubte. »Sky – verflixt, wo steckt dein Hornochse von einem Vater? Ich bekomme ihn nirgends an die Strippe …«
Ich sagte, dass ich das auch nicht genau wüsste, und erinnerte ihn etwas hilflos an Leeks Anschluss in Venice Beach.
»Habe es schon tausendmal dort in seinem Sündenbabel versucht«, schimpfte Leeks alter, schrulliger Großvater, der dieselbe Augenfarbe hatte wie ich, allerdings anscheinend nur rein zufällig. Ich schluckte.
»Sky, warum ich anrufe«, unterbrach er meine düsteren Gedankengänge. »Ich sterbe. Heute. Morgen. Spätestens
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