Wenn du mich siehst - Hudson, T: Wenn du mich siehst - Hereafter
brennende Fackel und hatte sich in einem Ring um etwas postiert, was wie ein Kreis aus grauem Pulver aussah – genau wie das Zeug, das jetzt das Haus der Mayhews abgrenzte – und auf die Wiese gestreut war. Durch den Ring aus Leuten konnte ich gerade so einen kleinen viereckigen Gegenstand ausmachen, der auf der Wiese lag. Wahrscheinlich Ruths mit einem Kräuterkranz versehene Bibel.
Alle Seher außer Ruth starrten aufmerksam in den Kreis. Ruth hingegen stand ein wenig abseits und sah Joshua und mich an.
Joshua nickte seiner Großmutter kurz zu. » Fackeln, Ruth? Wären Taschenlampen nicht ein bisschen weniger plump gewesen?«
Ruths Mundwinkel zuckte ärgerlich. » Die Fackeln geben dem Ganzen etwas Feierliches, Joshua.«
Beim Klang der Stimmen blickten die übrigen Seher endlich in unsere Richtung. Ihre Gesichter überraschten mich: größtenteils ältere Leute, aber auch ein paar junge, nicht viel älter als Joshua und ich. Doch bloß wenige von ihnen – vor allem die älteren – starrten mich direkt an. Wie Jillian es vor der Schule und dann in der Küche der Mayhews getan hatte, schienen die jüngeren Seher unter Schwierigkeiten auf die Stelle zu starren, an der ich stand.
» Warum sehen mich nicht alle an?«, brachte ich flüsternd hervor, obwohl sich alles an meinem Körper, einschließlich meiner Stimmbänder, wie gelähmt anfühlte.
» Nicht alle haben ein auslösendes Erlebnis gehabt«, erklärte Ruth und richtete ihre scharfen Augen auf mich. » Manche von ihnen können dich nicht sehen … noch nicht.«
» Dann lass nicht zu, dass sie es tun«, flehte Joshua.
Gott sei Dank tat er es, denn ich glaubte nicht, über die Kraft zu verfügen, noch einen Satz hervorzuwürgen. Ich wusste nicht, ob diese Gruppe Seher genug Macht besaß, um mich für immer zu vertreiben, aber ich wusste, dass diese Kopfschmerzen (noch nicht völlig entkräftend, aber auf dem besten Weg dorthin) nichts Gutes ahnen ließen. Was auch immer die Seher mir antun wollten, ich wollte es gewiss nicht erleiden.
Ebenso wenig wollte ich, dass der heutige Abend mein letzter in der Welt der Lebenden wäre. Mein letzter Abend mit Joshua.
Ruth hingegen schüttelte zur Antwort auf Joshuas Bitte den Kopf. » Das ist nicht möglich. Wenn sie unter uns wandelt, an kein Jenseits gebunden, dann ist sie böse. Und wir können nicht riskieren, dass sie sich dem anderen Geist anschließt und noch mehr Menschen auf jener Brücke etwas antut.«
Joshua sprang vor und zerrte mich unwillkürlich mit sich. » Ihr habt den falschen Geist vor euch, das schwöre ich.« Ruth schüttelte wieder den Kopf, aber Joshua schnitt ihr das Wort ab, indem er fortfuhr: » Nein, hör mir zu, Ruth. Amelia hat nichts mit den ganzen Todesfällen auf der High Bridge zu tun. Ja, sie war selbst ein Opfer des Kerls, auf den ihr Jagd macht – Eli. Ich weiß es. Ich habe ihn selbst gesehen, und er ist richtig unheimlich.«
Ruth wich zögerlich einen Schritt vor ihrem Enkel zurück, als verwirrten seine Worte sie. Joshua nutzte die Gelegenheit und ging vorwärts, wobei er mit der freien Hand in seiner Tasche kramte. Er zog sein Handy hervor, klappte es auf und hielt es Ruth entgegen.
Zuerst vermied sie es hinzusehen, doch schon bald wurde ihr Blick von dem leuchtenden Display angezogen.
» Was hat das zu bedeuten, Joshua?«, fragte sie.
» Es ist eine SMS von Jillian«, sagte er und schob Ruth das Telefon näher hin. » Sie und unsere Freunde sind auf einer Party auf der High Bridge, und wir sind ziemlich sicher, dass Eli sie dorthin gelockt hat.«
» Wieso glaubst du das?«
» Ich weiß es einfach.« Er schrie beinahe, da er mit seiner Geduld allmählich an Ende war. Jede Sekunde Verzögerung konnte seine Schwester teuer zu stehen kommen, und das wusste er.
Ruth sah immer noch skeptisch aus. Ihr Mund war ungläubig verzogen. Doch ihre Augen … in ihren Augen konnte ich Zweifel sehen. Ich sah es jedes Mal, wenn ihr Blick zu mir herüberhuschte.
» Ruth«, sagte ich leise und trat vor, wobei ich Joshuas Hand immer noch umklammert hielt. Die Schmerzen an meinen Schläfen nahmen zu, je näher ich ihr kam, doch ich ging weiter. » Ruth, ich weiß, dass Sie mir nicht trauen, und in Anbetracht der Dinge verübele ich es Ihnen nicht. Aber in einem Punkt haben Sie recht: Eli Rowland verheißt nichts Gutes. Er kontrolliert jenen Fluss, und ich bin mir beinahe sicher, dass er hinter der Party heute Abend steckt, nach allem, was er mir heute über meinen Tod enthüllt
Weitere Kostenlose Bücher