Wenn du mich siehst - Hudson, T: Wenn du mich siehst - Hereafter
hat.«
In Ruths Augen spiegelte sich immer noch Unsicherheit wider, also beugte ich mich weiter vor. » Bitte«, murmelte ich. » Warten Sie mit diesem Ritual. Wenigstens lange genug, dass ich etwas gegen Eli unternehmen und dafür sorgen kann, dass sich Jillian in Sicherheit befindet.«
Ruth sah zu ihrer Gruppe von Sehern zurück, von denen uns jeder Einzelne aufmerksam beobachtete, und dann drehte sie sich wieder zu uns um.
» Bitte«, wiederholte ich.
Langsam, so langsam, dass ich mir nicht sicher war, ob Ruth sich überhaupt bewegt hatte, nickte sie mir zu.
» Ich kann sie eine Zeit lang hinhalten«, flüsterte sie. » Ich verspreche keine lange Zeit – einen Tag, zwei Wochen, wer weiß –, aber du musst dafür sorgen, dass sich meine Enkelin in Sicherheit befindet. Wenn nicht …«
Ruths Stimme verlor sich, doch sie musste den Gedankengang nicht zu Ende aussprechen. Wenn ich Jillian nicht rettete, würde mich nichts retten können. Ich biss mir auf die Lippe und nickte ebenfalls.
Ich drehte mich zu Joshua um, der immer noch blass und verängstigt aussah. » Joshua?«
Endlich regte er sich und sah von seiner Großmutter zu mir. Sobald seine ganze Aufmerksamkeit mir galt, packte ich seine Hand fest, sodass Feuer unsere Arme hinauf und hinunter raste.
» Joshua, du musst los«, befahl ich. » Jetzt!«
Mehr Ansporn benötigte Joshua nicht. Er ließ meine Hand los, stürzte auf sein Auto zu und holte die Schlüssel aus der Tasche. Er hatte beinahe die Tür erreicht, als ihm auffiel, dass ich nicht hinter ihm war. Erst da wirbelte er zu mir herum.
» Amelia?«
» Fahr ohne mich los. Ich schaffe es viel schneller dorthin, wenn ich mich dematerialisiere.«
» Tolle Idee.« Joshua nickte. » Tu, was immer du kannst. Ich werde schnell fahren.«
Seine Miene besagte mir, dass er zu aufgelöst war, um sich Gedanken darüber zu machen, was ich überhaupt konkret tun könnte, sobald ich den Fluss vor ihm erreicht hätte. Binnen Sekunden war er in den Wagen gestiegen und ließ den Motor an.
Als er über den Kies davonschlingerte, drehte ich mich wieder zu Ruth um.
Sie stand reglos da und beobachtete mich immer noch. Ihr Blick huschte kurz zu ihren Sehern, die alle gespannt – allem Anschein nach beinahe zornig – darauf warteten, dass sie etwas unternahm. Als Ruths Blick wieder zu mir huschte, sah ich die widerstreitenden Gefühle darin: Sorge um Jillian, Frustration angesichts der Lage, in der sie sich jetzt befand, und natürlich reiner Hass.
Auf mich.
Ihr offenkundiger Hass ärgerte mich, zumal die Kopfschmerzen immer noch in meinen Schläfen pochten und drohten, in jene schreckliche, mich außer Gefecht setzende Bildermontage überzugehen. Ich stand kurz davor, mich selbst und mein eigenes Leben nach dem Tod aufs Spiel zu setzen, bloß um ihre Enkelin zu retten. Ein wenig Dankbarkeit, oder zumindest ein bisschen weniger absichtlich zugefügte Schmerzen, hätten nicht geschadet.
Doch trotz meines Ärgers waren meine Emotionen noch nicht heftig genug. Ich würde viel aufgebrachter werden müssen, bevor ich mich zu dematerialisieren versuchte.
Statt an Ruth dachte ich also an Serena Taylor und Doug Davidson. Meine besten Freunde zu Lebzeiten. Die beiden Menschen, außerhalb meiner Familie, an denen mir am meisten auf der Welt lag. Ich stellte mir ihre irren, geisterbesessenen Gesichter in meiner Todesnacht vor: furchtbare Entstellungen der guten Menschen, die sie in Wirklichkeit waren. Bloße Schachfiguren, die Eli mit wahlloser Grausamkeit in seinem kleinen Spiel ausspielte, um Seelen zu erlangen. Keiner von ihnen – weder Eli noch seine dunklen Gebieter – hatte je in Betracht gezogen, dass unser eigener Wille etwas mit unserer Zukunft zu tun haben sollte.
Daher meine derzeitige Zukunftslosigkeit.
Sofort wurde ich wütend. Und zwar sehr. Die Emotion köchelte in meiner Magengegend. Sie drohte in meine Kehle hochzubrodeln und sich in einem Knurren Bahn zu brechen. Ihre Gewalt verursachte mir ein Schwindelgefühl. Ich streckte Halt suchend die Hand aus, fand aber keinen.
Während ich um mich tastete, kroch eine unerwartete Empfindung über die Haut meiner Handfläche: Luft – so kühl, als sei sie vom Wasser hergeweht –, die sich mit den Bewegungen meines Arms verlagerte.
Ich machte die Augen auf und starrte meine Hand an. Sie fuchtelte immer noch herum, umfasste nichts als Dunkelheit, etwa einen Meter über einem Stück Asphalt. Jenseits meiner Reichweite mündete der Asphalt in Wiese.
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