Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie
es einfach mal sagen. Bisher hatte ich immer Angst davor, es zu sagen â was ich wirklich von euch halte. Jetzt habe ich keine Angst mehr. Vor euch nicht. Vor niemandem. Vor nichts. Ich habe noch nicht mal Angst vor â¦Â« Sie bricht ab, aber ich weiÃ, was sie sagen wollte. Nicht mal Angst vor dem Sterben.
Aber ich weiÃ, dass das, was sie sagt, nicht die ganze Wahrheit ist. Ihre Entscheidung, zu dieser Party zu kommen, war mehr als das. Aus den Puzzleteilen entsteht ein Bild, das einen schrecklichen Sinn ergibt: Sie brauchte uns hier, brauchte diesen letzten AnstoÃ. Ich schlieÃe die Augen vor der Erinnerung an eine nasse und stolpernde Juliet, die hin und her geschubst wird wie eine Flipperkugel. Und heute Nacht musste sie wohl einfach ihre Geschichte loswerden â sie musste sich noch einmal ins Gedächtnis rufen, wie fürchterlich die Dinge sind. Ich frage mich, ob es sie an dem Tag, als wir alle bei Ally übernachteten â an dem Tag, als es ein anderes Ende mit ihr nahm, an dem Tag, der allein in einem Keller zu Ende ging â, mehr Ãberwindung gekostet hat. Ob sie auf der Party war, unbemerkt, ignoriert, und nicht den Mut aufbrachte, es durchzuziehen. Ob sie später in jener Nacht dasaà und die Waffe in ihrem Schoà anstarrte und sich die Gesichter all der Leute, die sie jahrelang gepeinigt hatten, vor Augen rief.
Plötzlich schwebt Vicky Hallinans Gesicht vor mir in der Dunkelheit, zu einer Grimasse verzerrt, und ich reiÃe die Augen auf. Vielleicht sind es die eigenen Geister, die man kurz vor dem Tod sieht.
»Das ist doch keine Lösung«, sage ich kraftlos. Ich habe das Gefühl, als wäre der Regen in mein Gehirn gesickert und hätte es nass und nutzlos gemacht. Mir fällt nichts von dem ein, was ich ihr eigentlich sagen wollte. Ich wiederhole es etwas lauter: »Das ist doch keine Lösung.«
»Bitte«, sagt Juliet leise, »ich will einfach allein sein.«
»Was ist mit deiner Familie?«, sage ich und meine Stimme nimmt einen hysterischen Tonfall an, als mir bewusst wird, dass ich sie erneut verliere, dass ich meine Gelegenheit verpasse. »Was ist mit deiner Schwester?«
Sie antwortet mir nicht. Sie starrt schweigend auf die StraÃe. Der Regen hat ihr T-Shirt völlig durchnässt, so dass ich ihre Schulterblätter sehen kann, die aus ihrem Rücken hervorstehen wie die Flügel eines jungen Vogels. Ich muss an den Augenblick denken, als Allys Mutter ins Zimmer kam und uns sagte: »Juliet Sykes hat sich erschossen«, und ich dachte, dass das ganz falsch sei â dass gerade sie durch den Himmel hätte springen oder stürzen oder fallen sollen. Ich stelle mir wieder das Gleiche vor wie damals, dass ihr plötzlich Flügel wachsen und sie in die Luft aufsteigt, weg von allem Ãbel.
Auf der StraÃe war bisher ungewöhnlich wenig Verkehr, aber jetzt höre ich aus beiden Richtungen Motorengeräusche. Laute. Heftige.
»Juliet.« Ich trete einen Schritt vor und packe sie fest am Arm. »Ich kann das nicht zulassen.«
Sie dreht sich zu mir um und der Blick, mit dem sie mich anstarrt, ist so leer, dass es mir den Atem raubt. Ihre Augen sind Tümpel, Flüssigkeit, nichts. Ihr Anblick erinnert mich an die zusammengenähte Maske, in die Löcher als Augen reingeschnitten waren: monströs, verunstaltet, zusammengestückelt, mit Augen, die aus dem Nichts ins Nichts starren. Ich bin so erschrocken, dass ich den Griff lockere. In meinen Ohren dröhnt es und ich meine die Autos zu spüren, aber ich bin wie gelähmt. Ich kann nicht aufhören, sie anzustarren.
»Es ist zu spät«, sagt sie und in diesem Moment, als ich sie nicht fest genug halte, macht sie sich los und rennt auf die StraÃe, genau als zwei Lieferwagen aneinander vorbeifahren. Ich sehe nichts weiter als das Glänzen des Metalls und etwas WeiÃes, das plötzlich in die Luft geschleudert wird, und einen Augenblick lang verspüre ich überwältigende Freude und denke, sie hat es geschafft, sie fliegt, und die Zeit scheint stehenzubleiben, wie sie da in der Luft glitzert wie ein schöner Vogel. Aber dann läuft die Zeit weiter und die Luft trägt sie nicht, und als sie herunterfällt, zerreiÃt ein durchdringendes Geräusch die Dunkelheit, und es dauert wieder eine ganze Weile, bis mir bewusst wird, dass ich es bin, die schreit.
GEISTER UND HIMMEL
Anderthalb Stunden
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