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Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie

Titel: Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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steht dort vollkommen unbeweglich, als würde sie den Regen gar nicht spüren. Irgendwann hebt sie sogar die Arme parallel zum Boden, als bereitete sie sich auf einen Sprung vom Zehnmeterbrett vor. Sie in dieser Stellung dastehen zu sehen, hat etwas Wunderschönes und Schreckliches zugleich. Es erinnert mich daran, wie wir an Weihnachten und Ostern in die Kirche gegangen sind, als ich klein war, und ich immer Angst hatte, zur Kanzel hochzuschauen, weil dort ein hölzerner Jesus am Kreuz hing.
    Â»Juliet!«
    Sie antwortet nicht; ich bin mir nicht sicher, ob sie mich nicht hört oder mich einfach ignoriert. Ich bin noch fünf Meter entfernt, dann drei. Hinter mir höre ich ein leises Grollen. Ich drehe mich um und sehe einen großen Lastwagen durch die Dunkelheit auf uns zusteuern. Erneut kommt mir ein willkürlicher Gedanke – dem sollte man echt den Führerschein entziehen, er fährt viel zu schnell  – und als ich mich wieder umdrehe, sehe ich, dass Juliet angespannt die Straße hinaufstarrt, die Arme an die Oberschenkel gepresst, und sie erinnert mich an etwas, aber es dauert eine Sekunde, bis mir klar wird, was das ist, genau so wie es auch eine Sekunde dauert, bis mir klar wird, was überhaupt los ist – sie sieht aus wie ein Hund, der einem Vogel auflauert  –, und dann fügt sich alles ineinander, und als sie losläuft, ein weißer Fleck, laufe ich auch, renne, so schnell ich kann, und verringere den Abstand zwischen uns, als sie aus dem Wald hinaus auf die Fahrbahn sprintet. Der Lastwagen hupt lange, ein Geräusch, das die Luft scheinbar vibrieren lässt, und dann stürze ich mich mit meinem ganzen Gewicht auf sie und wir purzeln stolpernd zurück in den Wald. Ich schreie und sie schreit und Schmerz durchzuckt meine Schulter. Ich rolle mich auf den Rücken, die schwarzen Zweige über mir bilden ein dichtes Netz. Einen Augenblick stelle ich mir vor, dass man aus dem Himmel springen und sicher darin landen könnte.
    Â»Was tust du da?«, schreit Juliet und als ich mich aufsetze, hat ihr Gesicht endlich seine Beherrschung verloren und ist vor Wut verzerrt. »Was tust du da, verdammt noch mal?«
    Â»Was ich tue?« Mein Ärger lodert ebenfalls auf. »Was tust du da? Dich einfach vor irgendeinen Lastwagen werfen … Ich dachte, es ginge darum, auf Lindsay zu warten …«
    Â»Lindsay? Lindsay Edgecombe?« Juliets Wut verfliegt und sie sieht total verwirrt aus. Sie presst die Hände an den Kopf. »Ich weiß nicht, wovon du redest.«
    Ich bin plötzlich verunsichert. »Ich … ich dachte, weißt du, dass das hier irgendwie deine große Rache wäre …«
    Juliet lacht, aber ihr Lachen hat nichts Fröhliches an sich. »Rache?« Sie schüttelt den Kopf und der Schleier scheint erneut vor ihrem Gesicht herabzufallen. »Tut mir leid, Sam. Ausnahmsweise hat das mal nichts mit euch zu tun.« Sie steht auf, ohne sich die Mühe zu machen, die dicken Matschspuren und die Blätter, die an ihr kleben, wegzuwischen. »Und jetzt lass mich bitte in Ruhe.«
    In meinem Kopf dreht sich alles und es fällt mir schwer, den Blick auf sie zu richten, als wären wir statt ein paar Meter kilometerweit voneinander entfernt. Es regnet jetzt stärker, in gezackten Kugeln. Einzelne Versatzstücke wirbeln in meinem Kopf herum: Lindsay, die stolz auf die Motorhaube des Panzers klopft, und sagt: »Ich würde sogar einen Crash mit einem Sattelschlepper unbeschadet überstehen«; der Besitzer von Dunkin’ Donuts , der ruft: »Das ist kein Auto, sondern ein Lastwagen«; die Zufälle des Lebens; wie sich alles in einem Augenblick verändern kann; zur richtigen Zeit am richtigen Ort oder zur falschen Zeit; die Zeit; der riesige Lastwagen, der auf uns zukommt, sein großer metallener Kühlergrill, der leuchtet wie Zähne, der Eindruck aus Licht und Größe. Das Einzige, das man sehen kann: Scheinwerfer, Größe,ein Gefühl von Kraft. Keine Rache. Zufall. Dummer, blöder, blinder Zufall. Nur ein Teil des eigenartigen Mechanismus der Welt, die hakt und stottert und wieder anläuft und zufällig kollidiert.
    Â»Aber warum …?« Ich rappele mich auf. »Warum bist du hergekommen? Was für einen Zweck hatte das dann?«
    Sie sieht mich nicht an, aber sie zuckt leicht mit den Schultern. »Eigentlich hatte das gar keinen Zweck. Ich wollte

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