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Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie

Titel: Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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später habe ich in Lindsays Einfahrt geparkt und wir beobachten beide, wie der Regen sich in Schnee verwandelt, beobachten, wie die Welt verstummt, als auf einmal Tausende Regentropfen in der Luft zu gefrieren scheinen und leise zur Erde segeln. Elody und Ally habe ich bereits abgesetzt. Auf dem Nachhauseweg hat niemand gesprochen. Elody lehnte sich auf dem Sitz zurück und tat so, als würde sie schlafen, aber irgendwann warf ich einen Blick in den Rückspiegel und sah das Glitzern in ihren Augen, die mich betrachteten.
    Â»Meine Güte. Was für eine Nacht.« Lindsay lehnt die Stirn an die Scheibe. »Es ist verrückt, weißt du? Ich hätte nie gedacht … ich meine, sie war ganz offensichtlich durchgeknallt, aber ich hätte nie gedacht, dass sie …« Sie schaudert und wirft mir einen Blick zu. »Und du warst dabei .«
    Als die Polizei und die Krankenwagen eintrafen – gefolgt von all den Leuten von Kents Party, die still und plötzlich nüchtern durch den Wald wanderten, angezogen vom Geräusch der Sirenen wie Motten vom Licht –, stand ich immer noch mit starrem Blick am Straßenrand. Ich wurde sogar von einer Polizistin befragt, die mitten auf dem Kinn ein großes Muttermal hatte, das ich wie einen einzelnen Stern am dunklen Himmel fixierte, etwas, woran ich mich orientieren konnte.
    War sie betrunken?
    Nein.
    War sie sonst irgendwie berauscht? Du kannst es mir ruhig sagen.
    Nein. Ich glaube es zumindest nicht.
    Lindsay fährt sich mit der Zunge über die Lippen, zappelt mit den Händen in ihrem Schoß herum. »Und sie hat nichts … sie hat nichts, ich meine, gesagt ? Nichts erklärt?«
    Das Gleiche hat mich die Polizistin vorhin auch gefragt: die letzte Frage, vielleicht die einzige, auf die es ankommt. Hat sie etwas zu dir gesagt? Irgendetwas, was dir einen Hinweis darauf gibt, wie sie sich fühlte, was sie dachte?
    Ich glaube nicht, dass sie irgendetwas gefühlt hat.
    Zu Lindsay sage ich: »Ich bin mir nicht sicher, ob man so was erklären kann.«
    Sie hakt nach. »Aber, ich meine, sie muss doch Probleme gehabt haben, oder? Irgendwas zu Hause, oder? So was macht man doch nicht einfach so.«
    Ich muss an Juliets kaltes, dunkles Haus denken, an die Fernsehschatten an den Wänden, das unbekannte Paar in dem harten Silberrahmen.
    Â»Ich weiß nicht«, sage ich. Ich sehe Lindsay an, aber sie hat den Blick abgewendet. »Ich schätze, wir werden es nie erfahren.«
    Ich spüre eine so große Leere in mir, dass es sich schon gar nicht mehr wie Leere anfühlt, sondern wie Erleichterung. Ich stelle mir vor, dass es sich so anfühlt, wenn man von einer Welle hinweggeschwemmt wird. So fühlt es sich in dem Moment an, wenn die schmale dunkle Küstenlinie ihren Kopf hinter dem Horizont einzieht, wenn du wegkippst und nur noch Sterne und Himmel und Wasser siehst, die dich umarmen. Wenn du die Arme ausbreitest und denkst: Okay .
    Â»Danke fürs Fahren.« Lindsay legt die Hand auf den Türgriff, macht aber keine weiteren Anstalten auszusteigen. »Bist du sicher, dass du klarkommst?«
    Â»Ich komme klar.«
    Ich sehe Muster aus Schnee schräg herabfallen, als strömten, trieben, wogten sie auf einer mächtigen Strömung, eine Flut, die die Welt glitzernd zurücklässt. Es ist wunderschön. Alles, woran ich denken kann, ist, dass dies das erste von vielen Dingen ist, die Juliet nicht mehr sehen wird.
    Lindsay kaut auf einem Nagel, eine Angewohnheit, von der sie immer behauptet, sie habe sie in der dritten Klasse abgelegt. Das automatische Garagenlicht ist ausgegangen und ihre Gesichtszüge liegen im Dunkeln.
    Â»Lindsay?«
    Sie zuckt zusammen, als hätten wir stundenlang geschwiegen und sie wäre erschrocken, mich immer noch im Auto sitzen zu sehen. »Was?«
    Â»Erinnerst du dich noch an den Abend im Rosalita’s ? Nachdem du aus New York zurückgekommen bist? Als ich dich auf dem Klo erwischt habe?«
    Sie dreht sich um und sieht mich an, ohne etwas zu sagen. Ihre Augen sind dunkler als der Rest ihres Gesichts, zwei pechschwarze Flecken.
    Â»War das wirklich das einzige Mal?«, frage ich.
    Sie zögert nur einen Augenblick. »Natürlich«, sagt sie, aber ihre Stimme ist ein Flüstern und ich weiß, dass sie lügt.
    Und da wird mir klar, dass Lindsay nicht furchtlos ist. Sie hat Angst. Sie hat Angst, dass die anderen herausfinden könnten,

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